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geistreichen Paradoxon ausgesprochen: „Man muß den Sinn beim
Geiste fassen". Sehr treffend bezeichnet das Wort „anschauen"
die Sache. In „schauen" liegt eine Steigerung des Begriffs „sehen";
es bezeichnet ein Sehen, bei dem man nicht bloß über die Oberstäche eines
Gegenstandes hinfährt, sondern gleichsam in ihn hineindringt, sich in ihn
versenkt, vertieft, um ihn nach allen Richtungen zu erfassen. Sehen
kann auch ein Tier, schauen nur ein Mensch. Die Präposition an
hebt, wie in den ähnlichen Wörtern anriechen, anhören, anfühlen, die
Absichtlichkeit hervor, mit der unser Auge an dem Objekte haftet, um es
dem Geiste zu vermitteln. Übrigens sei hier noch hervorgehoben, daß der
Begriff der Anschauung im Laufe der Zeit ein sehr vielseitiger geworden
ist. So spricht man von Anschauungen in der Wissenschaft, von Natur-
und Lebensanschaunngen, und im Streite der Meinungen sagt jemand:
„Das ist meine Anschauung von der Sache". Offenbar geht hier der Sprach¬
gebrauch über die Grenzen des pädagogischen Begriffes weit hinaus. Da
die Anschauung stets der sinnlichen Unmittelbarkeit eines Gegenstandes
bedarf, so giebt es genau genommen nur äußere, sinnliche Anschauungen.
Die Pädagogik hat jedoch den Begriff der Anschauung ausgeweitet. Ur¬
sprünglich nur auf den Gesichtssinn bezogen, ist er auch auf das Gehör
und alle anderen Sinne übertragen.
Haben mir uns nun das Wesen der Anschauung klar gemacht, so
müssen wir uns weiter die Frage beantworten: Welche Bedeutung
hat dieselbe für die geistige Entwicklung?
Pestalozzi nennt die Anschauung das absolute Fundament aller
Erkenntnis. Sie ist in der That die Grundlage der Entwicklung aller
Geisteskräfte, sie giebt das Material, aus welchem sich unser ganzes
geistiges Leben aufbaut.
Ans der Anschauung beruht zunächst die Vorstellung. Ein kon¬
kretes Beispiel aus dem Unterrichte möge uns das zeigen. Wir haben
die Maiblume in der Schule besprochen; an den zunächstfolgendeu Tagen
sehen die Kinder diese Pflanze nicht mehr, es werden ihnen ganz andere
Lehrstoffe vorgeführt. Nach etwa vier Tagen wird das von der Maiblume
Behandelte wiederholt. Die Kinder sind imstande, alle Merkmale von ihr
noch anzugeben, obwohl sie dieselbe nicht sehen, sie können die Blume
gleichsam vor ihren Geist stellen. Die Anschauung ist bei ihnen zur
Vorstellung geworden. Diese ist die Wiederholung, Repro¬
duzierung der Anschauung ohne sinnliche Mittel, nur durch
Geisteskraft. Sie ist das Resultat der Anschauung und ihre Vollendung.
Die Fähigkeit der Seele, das, was sie aufgefaßt hat, festzuhalten, heißt das
Gedächtnis, und die Kraft, dasselbe wieder ins Bewußtsein treten zu
lassen, das Vermögen, sich zu erinnern. Damit die Anschauungen zu
klaren und festen Vorstellungen werden, gelten für den Unterricht die
Regeln:
i ) Zeige wo niöglich die Gegenstände selbst oor! „Die
Dinge sind besser, als die Bilder davon," sagt Pestalozzi.
2) Zeige ni chtzu vielaufei n mal vor! Die eine Anschauung