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Mit dem Verbreitungsgange des Neuhochdeutschen endlich, wie er
oben gezeichnet wurde, hängt es zusammen, daß die neue Sprache, weil
zunächst hauptsächlich in Niederdeutschland aufgenommen, allmählich auch
viel mehr nieder- oder plattdeutsche Bestandteile in sich aufnahm, als
z. B. Luther zugelassen haben würde. So ist — um nur ein Beispiel zu
nennen —durch die Verkleinerungsform „chen" (Mädchen) die hochdeutsche
mit „lein" (Mägdlein), die Luther noch fast ausschließlich gebraucht, aus
der Schriftsprache nahezu verdrängt worden, nur der Dichter-sprache ist sie
noch geblieben. Gerade in Niederdeutschland wurde ferner der Name „hoch¬
deutsch" — bisher nur wie „oberdeutsch" den landschaftlichen Unterschied
bezeichnend — allmählich auf 1>en Gegensatz des „Gebildeten" zum „Ge¬
meinen", der Bildungssprache zur Volkssprache übertragen und so die
Kluft zwischen beiden noch mehr erweitert. Schließlich wurde allerdings
jener wachsende sprachliche Einfluß des Niederdeutschen dadurch wieder
wett gemacht, daß seit dem 17. Jahrhundert auch Süddeutschland mächtig
wieder in die Literatur eingriff und eine Reihe unserer größten Dichter
und Sprachmeister gerade von dort gekommen sind. Seit dieser Zeit unse¬
rer Klassiker ist eine allseitige Ausgleichung, Erneuerung und Umwand¬
lung unsers Sprachtums erfolgt derart, daß zwar die Luthersprache nach
wie vor als vorbildliche Grundlage allgemein anerkannt wird und seine
Bibel wenigstens für den protestantischen Gottesdienst noch heute den feier¬
lichen Grundton liefert, daß aber doch auch sie dem sprachlichen Fortschritt
sich hat anpassen müssen und im übrigen die Schriftsprache sich nach dem
von unsern Klassikern weitergebildeten Gebrauche zu richten pflegt.
M. Evers.
11. Mittelalter und Gegenwart.
Die Beurteilung des Mittelalters hat seit hundert Jahren drei Sta¬
dien durchlaufen: ein bekämpfendes, ein bewunderndes und ein ver¬
stehendes.
Die zweite Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, die vorzugsweise so¬
genannte Periode der Aufklärung, hatte ein Interesse daran, das Mittel¬
alter möglichst herabzusetzen. Die Zeit wollte auf diese Weise ihrer eigenen
Vollkommenheit inne werden. Es ist das ein natürlicher Zug der mensch¬
lichen Natur: wenn man ein Stück Weges zurückgelegt hat, will man sehen,
wie weit man gekommen, man will an der Größe des Erreichten die Größe
seiner Kräfte abschätzen, man will Zuversicht erwerben gegenüber den
neuen Aufgaben, die ihrer Lösung harren. Alle Mächte, denen gegenüber
das Zeitalter der Aufklärung emporkam, hatten während des Mittelalters
im Höhepunkt ihrer Kraftentwicklung gestanden; das Wesen des Mittel¬
alters war zusammengesunken unter den Schlägen eines Geistes, der