I. Häusliche Erziehung des Kindes.
16 '
Wenn im Kinde das Selbstbewußtsein erwachst wenn das Kind sich selbst
von der Außenwelt unterscheidet und dies durch die Aussprache des „Ich" zu
erkennen gibt (und dies geschieht in der Regel nach Ablauf des dritten Lebens¬
jahres), dann ist die Zeit zur allmählichen Anregung und Vermittelung für
die religiöse Entwicklung und Ausbildung gekommen.
Die Mutter leite den Blick des Kindes hinauf zum sternbesäeten Himmel
und zeige ihm den Glanz der auf- und untergehenden Sonne; sie mache das
Kind aufmerksam auf das Brausen des Windes und Rauschen des Waldes,
auf den zuckenden Blitz und aus das Rollen des Donners. Tritt dann später
das lebendige Wort, ein kurzer Hinweis hinzu, daß des Menschen Glück wie
Glas zerbrichst daß irdische Güter unzuverlässig siud, daß der Gesunde nicht
sicher vor Krankheit und Tod ist usw., daun entkeimt im Kinde das Abhängig¬
keitsgefühl, und mit ihm die Anhänglichkeit, die Liebe zu dem großen, weisen,
allmächtigen und allgütigen Vater, der über den Sternen thront. —
Heil dem Kinde, das, am Herzen einer frommen Mutter ruhend, jene
köstlichen Worte vernehmen darf, welche die fromme Gertrud an ihren Liebling
richtet: „Kind, es ist ein Gott, dessen du bedarfst, wenn du meiner nicht mehr
bedarfst; ein Gott, der dich in seine Arme nimmt, wenn ich dich nicht mehr zu
schützen vermag; ein Gott, der dir Glück und Frieden gibt, wenn ich dir nichts
mehr geben kann!"
Und keinen schöneren Gottesdienst kann es wohl geben, als wenn die
fromme Mutter an dem Bette ihres Lieblings niederkniet und im leisen Abend¬
gebet den lieben Gott um seiner Güte willen preist und für ihr Kindlein
um Segen und Gedeihen fleht; nichts Lieblicheres, als wenn das Kind dann
nachahmend seine Händchen faltet und still den Worten der frommen Beterin
lauscht.
Leider läßt es sich nicht leugnen, daß durch unsere Zeit ein bedenklicher
Zug geht; daß es so viele Eltern gibt, die nur der erwerbenden Arbeit und
dem sinnlichen Genusse leben und die religiösen und ethischen Interessen ver¬
kümmern lassen; daß man so viele Mütter antriffst auf welche das Wort des
großen Dichters: „Drinnen waltet die züchtige Hausfrau, die Mutter der
Kinder, und herrschet weise im häuslichen Kreise" nicht mehr Anwendung findet.
Solchen beklagenswerten Zuständen gegenüber hat nun die Schule die hohe
Aufgabe, sofort als helfeude Macht der Familie aufzutreten, und der Ele¬
mentarlehrer insbesondere ist berufen, mit allen Kräften danach zu streben,
das, was die Familie nicht leistet, möglichst zu ersetzen und die geschehenen
Mißgriffe des Elternhauses wieder gutzumachen.