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lose Gesellschaft setzen. Indes zeigt die tagtägliche Erfahrung, wie
unentbehrlich jener ist. Darum hat man von verschiedenen Gesichts¬
punkten aus seine Rechtfertigung versucht. Die religiös-theologische
Begründung sieht den Staat als göttliche Stiftung an. Seit
Augustin herrscht sie in der katholischen Kirche und hat zur Lehre
von den zwei Schwertern geführt, welche die Herrschaft der Kirche
über den Staat behauptet. Der Absolutismus des 19. Jahrhunderts
schloß sich ihr insofern an, als er das Gottesgnadentum lehrte —
in Preußen geschah es durch die konservativ-orthodoxe Richtung der
fünfziger Jahre. Gegenwärtig wird allerdings von katholischer Seite
weniger die kirchliche Form des Staates, als vielmehr der Gesell¬
schaft verfochten. Das materialistische Gegenstück zu der theologischen
Rechtfertigung bildet die Machttheorie, welche die Herrschaft des
Starken über den Schwachen durch die natürlichen Verhältnisse be¬
gründet ansieht. Dabei ist aber vergessen, daß es nicht die brutale
Gewalt, sondern in erster Linie geistige und ethische Eigenschaften
sind, welche zur Herrschaft führen, die noch dazu gewöhnlich von
-einer Minderheit ausgeübt wird. Dazu hat die Lehre insofern etwas
sehr Bedenkliches, da die Beherrschten geradezu aufgefordert werden,
sich die Macht im Staate zu verschaffen. Die Rechtstheorien sehen
den Staat als ein Rechtserzeugnis an, indem sie den Staat fälsch¬
licherweise als eine vor ihm bestehende Rechtsordnung annehmen,
die aber in Wirklichkeit erst durch ihn ermöglicht worden ist. Am
bekanntesten von ihnen ist die Vertragstheorie (vgl. § 8d), die da
annimmt, daß durch Abmachung der einzelnen unter einander oder
des Herrschers mit den Untertanen der Staat auf Grund eines Vertrages
begründet worden sei. Der Staat wird somit durch den Abschluß
eines Gesellschafts- oder Unterwerfungsvertrages gerechtfertigt. Diese
Anschauung hat, trotzdem sie bezüglich der Anfänge des staatlichen
Lebens falsch ist, großartige geschichtliche Wirkungen gehabt, dies
zeigt namentlich auch das 19. Jahrhundert mit seinen Neuordnungen
der Staatsgebiete und der Regierungsformen, und bei den Plebis¬
ziten. Die Vortragstheorie hat „in Europa eine alte Welt in
Trümmer geschlagen und jenseits des Ozeans eine neue schaffen
helfen" (Jellinek). Aber durch sie wird wohl das Dasein einzelner
Staaten gerechtfertigt, aber nicht das des Staates an und für sich.
Ebensowenig ist dies mit den ethischen Theorien, die ihn als eine
sittliche Notwendigkeit nachweisen, sowie mit den psychologischen der
Fall, die ihn als Gebilde der Vernunft, oder Volksgeistes, oder ge¬
schichtlicher Ereignisse, oder der Natur, oder menschlicher Triebe, wie
.3. B. Geselligkeit, Nützlichkeit, Furcht und dgl. rechtfertigen. Aber
durch all diese Lehren, so wertvolle Hinweise sie auch für den
Staatsbegriff im einzelnen enthalten, wird nur die Herrschafts- und
Zwangsgewalt im Staat, nicht aber die gesamte staatliche Gemein¬
schaft erklärt. Wenn indes erwogen wird, daß der einzelne einen
großen Teil seiner Lebenszwecke nur in der Gemeinschaft erreichen