Full text: Staats- und Volkswirtschaftslehre

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[§9] 
lose Gesellschaft setzen. Indes zeigt die tagtägliche Erfahrung, wie 
unentbehrlich jener ist. Darum hat man von verschiedenen Gesichts¬ 
punkten aus seine Rechtfertigung versucht. Die religiös-theologische 
Begründung sieht den Staat als göttliche Stiftung an. Seit 
Augustin herrscht sie in der katholischen Kirche und hat zur Lehre 
von den zwei Schwertern geführt, welche die Herrschaft der Kirche 
über den Staat behauptet. Der Absolutismus des 19. Jahrhunderts 
schloß sich ihr insofern an, als er das Gottesgnadentum lehrte — 
in Preußen geschah es durch die konservativ-orthodoxe Richtung der 
fünfziger Jahre. Gegenwärtig wird allerdings von katholischer Seite 
weniger die kirchliche Form des Staates, als vielmehr der Gesell¬ 
schaft verfochten. Das materialistische Gegenstück zu der theologischen 
Rechtfertigung bildet die Machttheorie, welche die Herrschaft des 
Starken über den Schwachen durch die natürlichen Verhältnisse be¬ 
gründet ansieht. Dabei ist aber vergessen, daß es nicht die brutale 
Gewalt, sondern in erster Linie geistige und ethische Eigenschaften 
sind, welche zur Herrschaft führen, die noch dazu gewöhnlich von 
-einer Minderheit ausgeübt wird. Dazu hat die Lehre insofern etwas 
sehr Bedenkliches, da die Beherrschten geradezu aufgefordert werden, 
sich die Macht im Staate zu verschaffen. Die Rechtstheorien sehen 
den Staat als ein Rechtserzeugnis an, indem sie den Staat fälsch¬ 
licherweise als eine vor ihm bestehende Rechtsordnung annehmen, 
die aber in Wirklichkeit erst durch ihn ermöglicht worden ist. Am 
bekanntesten von ihnen ist die Vertragstheorie (vgl. § 8d), die da 
annimmt, daß durch Abmachung der einzelnen unter einander oder 
des Herrschers mit den Untertanen der Staat auf Grund eines Vertrages 
begründet worden sei. Der Staat wird somit durch den Abschluß 
eines Gesellschafts- oder Unterwerfungsvertrages gerechtfertigt. Diese 
Anschauung hat, trotzdem sie bezüglich der Anfänge des staatlichen 
Lebens falsch ist, großartige geschichtliche Wirkungen gehabt, dies 
zeigt namentlich auch das 19. Jahrhundert mit seinen Neuordnungen 
der Staatsgebiete und der Regierungsformen, und bei den Plebis¬ 
ziten. Die Vortragstheorie hat „in Europa eine alte Welt in 
Trümmer geschlagen und jenseits des Ozeans eine neue schaffen 
helfen" (Jellinek). Aber durch sie wird wohl das Dasein einzelner 
Staaten gerechtfertigt, aber nicht das des Staates an und für sich. 
Ebensowenig ist dies mit den ethischen Theorien, die ihn als eine 
sittliche Notwendigkeit nachweisen, sowie mit den psychologischen der 
Fall, die ihn als Gebilde der Vernunft, oder Volksgeistes, oder ge¬ 
schichtlicher Ereignisse, oder der Natur, oder menschlicher Triebe, wie 
.3. B. Geselligkeit, Nützlichkeit, Furcht und dgl. rechtfertigen. Aber 
durch all diese Lehren, so wertvolle Hinweise sie auch für den 
Staatsbegriff im einzelnen enthalten, wird nur die Herrschafts- und 
Zwangsgewalt im Staat, nicht aber die gesamte staatliche Gemein¬ 
schaft erklärt. Wenn indes erwogen wird, daß der einzelne einen 
großen Teil seiner Lebenszwecke nur in der Gemeinschaft erreichen
	        
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