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gewählt. Der Reichstag kann jedoch früher mit Zustimmung des
Bundesrats vom Kaiser aufgelöst werden.
Dann müssen gesetzmäßig die Neuwahlen innerhalb 60 Tagen
stattfinden, und 90 Tage nach der Auslösung mutz der neue
Reichstag versammelt sein. Der Kaiser kann ferner den Reichstag
auf 30 Tage vertagen, d. h. die Verhandlunen aussetzen. Zu einer-
längeren Vertagung bedarf es der Zustimmung des Reichstages.
" Alljährlich tritt der Reichstag zur Beratung zusammen.
Als der Reichstag im Jahre 1871 zum ersten Male zu-
sammentrat, hatte Deutschland 39700000 Einwohner. Daher
stammt die Zahl 397; denn auf 100000 Einwohner kommt ein
Abgeordneter. Seitdem ist die Bevölkerungsziffer dauernd ge¬
stiegen, bis gegenwärtig auf 63 Millionen, so daß wir 630 Ab¬
geordnete haben mützten, aber eine Erhöhung der Ziffer ist noch
nicht vorgenommen worden. Die kleinen Bundesstaaten mit
weniger als 100000 Einwohner stellen einen Abgeordneten.
Die Aufgaben des Reichstages bestehen darin, Gesetze zu
beraten, deren Ausführung zu überwachen, Einnahmen und Aus¬
gaben zu bewilligen. Im allgemeinen werden die Gesetzentwürfe
vom Bundesrate dem Reichstage überwiesen. Jedoch kann auch
der Reichstag selbst mit Unterstützung von mindestens 16 Unter¬
schriften Gesetzesvorschläge machen.
Jeder Bürger kann dem Reichstage durch Petition Anregung
zu Gesetzesvorschlägen geben. Da im Reichstage eine sehr große
Menge von Bittgesuchen eingeht, so ist dafür eine besondere
Kommission eingesetzt, die die Petitionen durchzusehen und zu
prüfen hat. Jede Woche wird den Abgeordneten Kenntnis von
den eingelaufenen Petitionen gegeben. Die wichtig genug zur
Besprechung erscheinenden werden auf Antrag von 15 Mitgliedern
in öffentlicher Sitzung behandelt.
Beschlußfähig ist der Reichstag, wenn eine Person über die
Hälfte anwesend ist, also 198 -j- 1 = 199.
Ist ein Gesetzentwurf vom Reichstage beraten und beschlossen,
so bedarf er noch der Zustimmung des Bundesrats, der Unter¬
schrift des Kaisers, der Gegenzeichnung des Reichskanzlers. Dann
ist er verbindliches Gesetz.
48. Reichstagswahl.
Ein reges Leben herrscht im Orte, wenn eine Reichslagswahl
in Aussicht steht. Verschiedene Kandidaten, den verschiedenen
Parteien angehörig, halten Reden und bieten sich an. Dabei
verunglimpfen sie oft ihren Gegner ganz gehörig. Jeder preist
sich an, um gewählt zu werden.
Am Wahltage treten nun alle wahlberechtigten Bürger an.
Es kann jeder unbescholtene Bürger wählen, der über 26 Jahre
alt ist, sich im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte befindet, frei