Zweites Kapitel. Völkerverkehr und Völkerrecht.
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Zweites Kapitel.
Völkerverkehr und Völkerrecht.
I. Die Völker zeigen im Verkehr miteinander dieselben Tugenden
und Fehler wie die einzelnen Persönlichkeiten: den Willen zu leben
und im Leben sich zu behaupten, Liebe und Hatz, Selbstsucht, Ehrsucht,
Gewalttätigkeit. Die Kulturentwicklung führt si-e aufwärts, aber recht
langsam. Christus brachte uns die Erkenntnis von der Einheit der
Menschheit und mit der Lehre von der Gotteskindschaft aller Menschen
eine feste Grundlage auch für ein höheres Völkerrecht:
© laß dein Licht auf Erden siegen,
Die Macht der Finsternis erliegen
Und lösch der Zwietracht Glimmen aus,
Daß wir, die Völker und die Thronen,
vereint als Brüder wieder wohnen
In deines großen Vaters Haus.
Aber noch immer treten uns im Völkerleben Fehler, die die
einzelnen Menschen zu meiden schon sich gewöhnt haben, auch bei
hochstehenden Nationen entgegen. Dem andern gegenüber war einst
alles und ist jetzt noch recht viel erlaubt: List und Betrug, Lüge,
Kaub und Mord (vor allem in der gewaltsamen Form der Po¬
litik, im Krieg). Auch ist der Besserungstrieb nicht immer vor¬
handen. Die schon erstiegene Stufe der Sittlichkeit wird bisweilen
wieder verlassen, und ein Niedergang tritt ein, den niemand er¬
wartet. Da ist dann keiner, der Gutes tut, auch nicht einer. Freund¬
schaft wird unter Völkern selten unverbrüchlich gehalten, Bündnisse
wechseln und werden meist treulos gelöst: sie sind so fest wie das
Laub im November. Der Ausdruck perfid wird oft vom Feinde ge¬
braucht und sagt doch wenig,- jeder hält Treue, solange es nützlich
ist, aber zuzeiten ist es nützlicher, sie zu brechen. Das haben England
und Nußland undFrankreich getan, Friedrich derGroße undAlexanderl.,
lauter anständige Leute. Man stelle es in die Rechnung ein und
rege sich nicht unnötig auf. Der Deutsche mag von deutscher Treue
singen, er mag auch die deutsche Gesittung, Redlichkeit und Bieder¬
keit preisen, die so bei keinem andern Volke der Welt sich finde,
er braucht es,- er kann es vielleicht auch, er allein. Fichtes Reden
von der Majestät des deutschen Wesens, das die Vorsehung zu ihrem
Weltplane vor allen andern notwendig braucht, haben unsern Vor¬
fahren in den Zeiten liefen Niedergangs wohlgetan: ,,Unter allen
neueren Völkern seid ihr es, in denen der Keim der menschlichen ver-