Full text: Deutschlands Weltpolitik (Bd. 162)

116 /3) Karl Röttinger: Die handelspolitische Lage usw. /D/D 
Rußland ist, als Caprivi die deutsche Tarifvertrags¬ 
politik einleitete, nur sehr widerwillig in den Kreis der von 
Deutschland geführten Tarifvertragsstaaten eingetreten. 
Es bedurfte dazu erst eines Zollkriegs, in dem Rußland 
5 den kürzeren zog. Rußland hat aber diese Niederlage nicht 
vergessen. Es glaubt sich von Deutschland industriell aus¬ 
gebeutet und will von der Abhängigkeit von Deutschland 
loskommen. Es ist bekannt, daß dies für die russische In¬ 
dustrie geradezu das Ziel dieses Krieges bedeutet, an dem 
10 sie auch im Falle einer Niederlage mit Leidenschaft fest¬ 
halten wird. Es liegt auch ganz in der Linie der natürlichen 
Entwicklung, daß ein Wirtschaftskörper wie der russische, 
der sich von der kalten Zone bis in die Nähe der Tropen 
erstreckt, nach wirtschaftlicher Autarkie strebt. Ein sich 
15 selbst genügender Staat aber braucht keine Handelsver¬ 
träge ; er kann sich eine autonome Zollpolitik leisten. Das 
ist auch in der Tat das Ziel, dem Rußlands Handels¬ 
politik zustrebt. 
Was wir angesichts solcher Schwierigkeiten zu tun haben, 
20 ergibt sich, wenn wir nun auch die Besonderheit unserer 
Lage betrachten. Die geographische Lage im Herzen Eu¬ 
ropas, die unsere militärische Schwäche ist, ist gleichzeitig 
unsere handelspolitische Stärke. Wenn sich auch unsere 
zwei größten Nachbarn: Rußland und Frankreich mehr 
25 und mehr abzusondern bemühen, so werden sie das Ein¬ 
dringen des deutschen Handels zwar hemmen, aber nie 
unterdrücken können. Außerdem bleiben für unseren Han¬ 
del alle übrigen Völker in Mittel-, Nord- und Südosteuropa 
übrig, die gerade dadurch, daß sich Rußland und Frank- 
30 reich verschließen, als Verkäufer wie als Käufer auf den 
deutschen Markt verwiesen werden. Wenn England zum 
Schutzzoll übergeht, so werden auch Dänemark und Nor¬ 
wegen, die bisher nach England gravitierten, sich mehr 
dem deutschen Markt zuwenden müssen. In diesen Nachbar- 
35 ländern haben wir unsere durch die geographische Lage
	        
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