Full text: Fürst Bismarck (Bd. 145)

1. Die Kaiserwahl in Frankfurt, 5 
ist; denn ich kann mir nicht denken, daß in Preußen und 
Deutschland zwei Verfassungen auf die Dauer nebenein¬ 
ander bestehen können; namentlich da wie bisher das 
deutsche Volk des engeren Bundes sehr wenig andere Leute 
außer den preußischen Untertanen in sich begreifen wird, 
so scheint es mir, daß zwei in vielen Punkten sich gegen¬ 
überstehende Verfassungen nicht parallel nebeneinander 
bestehen können, so daß die eine für 16 Millionen Preußen, 
die andere für dieselben 16 Millionen Preußen und außer¬ 
dem für 4 bis 5 Millionen Deutsche aus dem „Reich" 
Geltung hätte. Die preußische Verfassung vom 5. Dezember 
rechne ich nicht unter die vorzüglichsten, von denen die 
Geschichte Nachricht gibt; ihr Hauptvorzug ist, daß sie da 
ist. - Sie läßt der Regierung kaum den notdürftigen 
Bestand derjenigen Rechte, ohne welche sich überhaupt 
nicht regieren läßt. Auch sie erkennt das Prinzip an, daß 
der Einfluß einer jeden Volksklasse in demselben Maße 
steigen müsse, in welchem ihre politische Bildung und 
Urteilsfähigkeit abnimmt, und gibt damit ein sicheres Boll¬ 
werk gegen die Aristokratie der Intelligenz. Indes, die 
Frankfurter Verfassung hat noch tiefer aus dem Brunnen 
der Weisheit jener Theoretiker geschöpft, welche seit dem 
contrat social nichts gelernt und nichts vergessen haben, 
— jener Theoretiker, deren Phantome uns in sechs 
Monaten des vorigen Sommers mehr an Blut, Geld und 
Tränen gekostet haben, als ein dreiunddreißigjähriger 
Absolutismus. — Die Frankfurter Berfassung bringt uns 
unter ihren Geschenken zuerst das Prinzip der Dolks- 
souveränität, sie trägt den Stempel derselben offen auf der 
Stirne, sie erkennt es an in der ganzen Art, wie die Frank¬ 
furter Versammlung uns diese Verfassung — ich würde 
mich, wenn ich zur Linken gehörte, des Ausdruckes 
„oktroyiert" bedienen — sie sanktioniert das Prinzip der 
Bolkssouveränität am schlagendsten in dem Suspensiv-Beto 
des Königs, was der geehrte Vorredner Eamphausen aus- 
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