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Das Volkslied: Vlll. Stimme der Völker.
Wo jungfräulicher Nymphen Schar-
tief im Dunkel des Haines spielt
und die Blüte der Rebe schwillt
unter schattendem Weinlaub.
--Doch nicht achtet der lieblichen
Jahreszeit Eros und läßt mich ruhn,
nein, wie thrakischer Wintersturm
widerleuchtend von Blitzesschein
fällt er, Kyprias wilder Sohn,
mit blindsengender Wut mich an
und erschüttert gewaltsam mir
die Grundfesten des Herzens.
132. Unter der Linde.
(Römisch.)
Übersetzt von Hermann Kestner.
1- „Mein Liebster zog nach Frankreich,
kam seit sieben Jahren nicht nach Haus.
Ach! wüßt ich nur die Straße,
ging ich fort und sucht ihn auf!"
2- Als sie auf halbem Wege,
sieht sie einen Jüngling schön:
„Du schöner Jüngling sage,
sag, o sag, wo kommst du her?"
3- »Ich komm vom Morgenland,
wo keine Sonn' und Mond mehr scheint.«
„Du schöner Jüngling sage,
sahst du nirgend den Liebsten mein?"
»Ja, ja, ich sah ihn dorten
im fernen Morgenland.
Zur Kirch von San Giacomo
trug man ihn beim Glockenklang,
»-Mit sieben hellen Fackeln,
wie man Kaiser und Fürsten trägt.«
Ninetta sank zur Erde
halb entseelt vor Schmerz und Schreck.
6- »Steh aus, steh auf, Ninetta,
denn ich bin der Liebste dein!«
Ninetta sprang vom Boden,
gab ihm der Küsse drei.
133. Geistliches Wiegenlied.
(Spanisch.)
Übersetzt von Emanuel Geibel.
i- Die ihr schwebet
um diese Palmen
in Nacht und Wind,
ihr heiligen Engel,
stillet die Wipfel!
Es schlummert mein Kind.
2- Ihr Palmen von Bethlehem
im Windesbrausen,
wie mögt ihr heute
so zornig sausen!
O rauscht nicht also!
Schweiget, neiget
euch leis' und lind:
stillet die Wipfel!
Es schlummert mein Kind.
->- Der Himmelsknabe
duldet Beschwerde,
ach, wie so müde er war
vom Leid der Erde.
Ach, nun im Schlaf ihm
leise gesänftigt
die Qual zerrinnt,
stillet die Wipfel!
Es schlummert mein Kind.
4- Grimmige Kälte
sauset hernieder,
womit nur deck' ich
des Kindleins Glieder!
O, all' ihr Engel,
die ihr geflügelt
wandelt im Wind,
stillet die Wipfel!
Es schlummert mein Kind.
134. Lied der Morgenröte.
(Französisch. Zugeschrieben: Heinrich IV.
t 1610.)
Übersetzt von Herder.
i-Komm, Aurore,
und entflore
mir dein Purpurangesicht!
Deine Strahlen,
ach, sie malen
mir mein Purpurmädchen nicht.
2. Ihre süße
Himmelsküsse,
mit Ambrosia gespeist;
wer sie küsset,
der genießet
Nektartau und Göttergeist.
»-Schlank, wie Reben
aufwärts schweben,
schwebt ihr Schwanenwuchs hinan;
wie die ferne
Morgensterne
glänzet mich ihr Auge an.