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VI. Aus dem Menschenleben.
Oie Schwalben wussten nichts; aber der Storch sah nachdenklich
aus, nickte mit dem Kopfe und sagte: „Ja, ich glaub’ es zu wissen. Mir
begegneten viele neue Schiffe, als ich von Ägypten flog; auf den Schiffen
waren prächtige Mastbäume; ich darf wohl sagen, dass sie es waren, die
nach Tannen dufteten; die prangen, ja, die prangen!“
„0, wär’ ich doch auch gross genug, um übers Meer zu fliegen!
Wie ist eigentlich dieses Meer, und wie sieht es aus?“
„Ja, das ist zu weitläufig zu erklären!“ sagte der Storch und ging.
„Freue dich deiner Jugend!“ sagten die Sonnenstrahlen; „freue dich
über deinen frischen Wuchs, über dein junges Leben, das in dir pocht!“
Und der Wind küsste den Baum, und der Tau weinte Thränen über ihn;
aber das verstand der Tannenbaum nicht. —
Als es Weihnachten war, wurden ganz junge Bäume gefällt, Bäume,
die oft nicht einmal so gross oder in gleichem Alter mit diesem Tannen¬
baume waren, der weder Ruhe noch Rast hatte, sondern immer fortwollte;
diese jungen Bäume, — und sie waren gerade die allerschönsten, — be¬
hielten immer ihre Zweige; sie wurden auf Wagen gelegt, und die Pferde
zogen sie aus dem Walde.
„Wohin sollen sie?“ fragte der Tannenbaum. „Sie sind nicht
grösser als ich; da war sogar einer, der bedeutend kleiner war; weshalb
behalten sie alle ihre Zweige? Wohin werden sie gefahren?“
„Wir wissen’s! wir wissen’s!“ zwitscherten die Sperlinge. „Wir
haben unten in der Stadt durch die Scheiben gesehen; wir wissen, wohin
sie gefahren werden! O, sie erlangen den grössten Glanz und die grösste
Herrlichkeit, die man sich nur denken kann! Wir haben durch die
Fenster geguckt und gesehen, dass sie mitten in die warme Stube ge¬
pflanzt und mit den herrlichsten Sachen, mit vergoldeten Äpfeln, mit
Honigkuchen, Spielzeug und vielen hundert Lichtern, geschmückt wurden!“
„Und dann?“ fragte der Tannenbaum und bebte an allen Zweigen,
„und dann? Was geschieht dann?“
„Ja, mehr haben wir nicht gesehen. Es war unvergleichlich!“
„Ob ich wohl dazu bestimmt bin, diesen glanzvollen Weg zu
gehen?“ jubelte der Baum. „Es ist noch besser, als übers Meer zu
wandern. Wie mich die Sehnsucht verzehrt! Wär’s doch Weihnachten!
Nun bin ich hoch und erwachsen wie die andern, die im letzten Jahre
weggeführt wurden! 0, wär’ ich schon auf dem Wagen! Wär’ ich doch
in der warmen Stube mit all der Pracht und Herrlichkeit! Und dann?
Ja, dann kommt etwas noch Besseres, noch Schöneres; weshalb sollten
sie mich sonst so schmücken! Es muss etwas noch Grösseres, noch
Herrlicheres kommen; aber was? O, ich leide, ich sehne mich; ich weiss
selbst nicht, was mit mir ist.“
„Freue dich unser!“ sagten die Luft und das Sonnenlicht, „freue
dich deiner frischen Jugend im Freien!“