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Himmels willen laßt Milch bringen! Ich darf nicht laut sprechen;
laßt die Milch mir nahe auf den Boden setzen und etwas davon
daneben gießen!" Ich gab sogleich den Befehl, und mein Diener
schlüpfte vorsichtig weg. „Sitzt füll, Hauptmann! Ihr bewegt den
Kopf; bei allem, was Euch heilig ist, beschwöre ich Euch, thut es nicht!
Es kann nicht lange dauern, bis mein Schicksal entschieden ist. Ich
habe eine Frau und zwei Kinder in Europa; sagt ihnen, daß ich, sie
segnend, gestorben sei, daß meine letzten Gebete für sie gewesen. —
Die Schlange windet sich höher; ich lasse ihnen alles, was ich besitze;
es kommt mir vor, als fühle ich bereits ihren Atem; — großer Gott,
auf solche Art zu sterben!"
Die Milch ward gebracht und von meinem indischen Diener, der
selbst unhörbar wie eine Schlange am Boden hinkroch, an den be¬
stimmten Ort niedergesetzt, nachdem er etwas nebenbei auf den Boden
gegossen hatte. Kaum war dies geschehen, als M. wieder begann:
„Nein, nein, es hat keine Wirkung; im Gegenteil, sie zieht sich fester
zusammen; jetzt entfaltet sie die obere Schlinge. Ich darf nicht nieder¬
sehen; aber ich bin gewiß, sie dreht sich rückwärts, um mir den
Todesstoß zu geben. Nimm mich auf, o Herr, und vergib mir meine
Sünden! Meine letzte Stunde ist gekommen. Ich habe Festigkeit;
aber dies übersteigt, was zu ertragen ist! Ach nein, sie entfaltet
einen zweiten Knoten und macht sich frei. Sollte sie zu einem andern
gehen?" Wir bebten unwillkürlich zurück.
„Um des Himmels willen rührt euch nicht; steht nicht auf, ich
bin des Todes! Haltet mit mir aus! Sie löst sich noch mehr; sie
ist im Begriff sich niederzuwerfen. Bewegt euch nicht; aber seht euch
vor! Hauptmann, sie fällt nach Eurer Seite! O, diese Todesangst
ist zu groß! Ein anderer Druck, und ich bin tot. Nein, sie läßt sich
los!" In diesem fürchterlichen Augenblicke waren aller Blicke auf
den Boden geheftet, die Schlange wandte sich mit erhobenem, auf¬
geblasenem Kopfe der Milch zu.
„Ich bin gerettet, bin gerettet!" rief M. aufspringend und fiel
bewußtlos in die Arme seiner Diener. — In dem nächsten Augen¬
blicke waren wir alle zerstreut und mit Stöcken und Stühlen bewaffnet.
Die Brillenschlange lag erschlagen, und unser armer Freund ward
mehr tot als lebendig in sein Schlafzimmer getragen. Wir anderen
aber waren durch die ausgestandene Angst fast nicht weniger er¬
schöpft; und bei mir dauerte es lange Zeit, bis sich der Eindruck
jenes schrecklichen Augenblicks etwas verwischte. Reichenbach.
167. Die Seide.
Das schöne Band an deinem Hut, das bunte, weiche Tuch —
sie sind aus Seide. Wo kommt die Seide her, und wie entsteht sie?
Du würdest lachen, wenn dir einer sagte: sie entsteht aus Erde, Licht,
Luft und Wasser. Du glaubtest, er triebe mit dir Scherz; nimmer-