Geschichtlicher Überblick der deutschen Verskunst.
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All der Leids- und Kriegsgenossen
Balsam, Aloe und Myrrhen
Muß die heiligen Dienste zollen.
Schlegel.
A um. „Der assonierende Vokal soll der auszudrückenden Empfindung im Klange entsprechen.
Man findet daher im Allgemeinen im u den Ausdruck des Dumpfen, des Schreckens, der Furcht,
des Abscheues, im a den der Reinheit, des Erhabenen, Bewunderung Erregenden, Zarten, im o
den des Vollen, Feierlichen, Staunens, innern Schmerzes, im e den des Leeren, Kleinlichen,
Gleichgiltigen, im i den der Heftigkeit, des Ergreifenden in der Freude und im physischen
Schmerze. Ähnlich die Umlaute und Doppelvokale." Edler.
§. 92. Der Endreim (schlechthin Reim genannt) besteht in einem Gleichklang
von Vokalen und Konsonanten in verschiedenen Wörtern, ist in der deutschen Poesie viel
jünger als die Alliteration und wahrscheinlich durch die gelehrte Mönchspoesie unter den
fränkischen Königen nach Deutschland gekommen, oder doch wenigstens mehr verbreitet.
Anm. Neuere Forschungen haben dargethan, daß Reim, Assonanz und Alliteration
(wenigstens in ihren Ansängen) schon bei den ältern röm- und griech. Dichtern (Homer) vor¬
kommen. Vgl. Dr. Holzapfel in: „Zeitschrift für das Gymnasialwesen," 1851, Jan. 1,
S. 673, und Chr. Th. Schuch (si 1857): „De poesis latinae rhythmis et rimis, praecipue
monachorum.“ Donaueschingen 1851. 8.
§. 93. Anfangs finden wir eine Zeit lang Alliteration und Reim neben einander.
Zur Alleinherrschaft gelangt zeigt sich der Reim zuerst in Gedichten, die aus der zweiten
Hälfte des 9. Jahrhunderts stammen (Otfrieds Evangelienharmonie). Die Reime fallen
hier auf die letzte Hebung des Verses, sind also einsylbig oder stumpf (männlich). Ot¬
frieds zweisylbige Reime sind keine eigentlich klingende (weibliche); genaue Stimmung
des Vokals der vorletzten Sylbe war daher nicht einmal von ihnen zu verlangen. Desto
mehr wurde aber ahd. ans die Reinheit des Vokalklangs im einsylbigen Reim gehalten.
Daß die Reime ahd. immer die Wurzelsylbe treffen, ist durchaus nicht nothwendig: bei der
Mannigfaltigkeit und Volltönigkeit der Endungen genügen diese noch vollkommen zur Bin¬
dung der Verse.
8i sint so säma kuani
Selb so thie romani ;
Ni thärf man daj ouh rédinon
Thaj kriachi in thes giuuidaron *)
§. 94. Die Abschwächung der Wortendungen mußte auch in dem Gebrauche der
Reime wesentliche Veränderungen nach sich ziehen. Der Gleichklang, der ahd. noch durch
bloß tieftonige Schlußsylben bewerkstelligt werden konnte, genügte nicht mehr, als mhd.
die Vokale der letztern, der großen Mehrzahl nach, zu einem unbetonten e herabgesunken
waren (§. 13). Daher zog sich der Reim immer mehr in die Wurzeln der Wörter zurück
und zeigte sich dort, als in den bedeutendsten Sylben, in voller Kraft. Nun treten auch
die zweisylbigen (klingenden, weiblichen) Reime mehr hervor, mit dem Hauptton auf der
ersten langen Sylbe.
§. 95. In den nicht genauen Bindungen sind im Allgemeinen entweder die Vokale,
oder die Konsonanten, oder beide zugleich verschieden, wobei aber in dem Verschiedenen aus
eine gewisse Verwandtschaft geachtet wird. In zweisylbigen Reimen ist in der Regel Gleich¬
heit der Quantität. Das Gehör der mhd. Dichter unterscheidet zwischen langer Sylbe und
langem Vokal. Wenn zwei Konsonanten auf einen kurzen Vokal folgen, verlängern sie
zwar die Sylbe, machen sie jedoch nicht fähig, mit gleichen Konsonanten, denen ein langer
Vokal vorausgeht, zu reimen, z. B. worte reimt nicht auf storte. Als unreine Reime, in
Bezug auf den Vokal, finden sich, freilich nicht sehr zahlreich, und fast als Ausnahmen:
a : L, i : u : ü, 6: 6, o : o, i : ie, i : ü, u : uo, ü : iu, à : ö, ö : uo, oe : üe, ü : 0U, ü : uo, z. B.
i)_ Sie (die Franken) sind eben so kühn, selbst wie die Römer: nicht darf man das auch reden,
daß Griechen ihnen das (darin) widersprechen. — Die Accente in den Otfriedischeu Handschriften be¬
zeichnen in so fern das Versmaß, als sie (meist) in jeder einzelnen Reimzeile zwei Betonungen
(Doppelfüße) von den vier hervorheben.