Full text: [Obere Lehrstufe] (Obere Lehrstufe)

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V. Naturbeschreibung. 
Mannigfach ist in Sage und Geschichte die enge Verbindung des Baumes mit dem 
Ursprung ausgezeichneter Ortschaften aufbewahrt. In der Stadt Rastenburg *) war 
einst ein Angeklagter zum Tode verurtheilt worden. Am Tage vor der Hinrichtung 
erschien ihm die heilige Jungfrau, tröstete ihn und gab ihm ein Stück Holz und ein 
Messer mit dem Aufträge, etwas zu schnitzen. Er schnitzte darauf ein Marienbild mit 
dem Christuskinde aus den Armen. Als die Gerichtsherren das Bild sahen und von 
der Erscheinung der heiligen Jungfrau hörten, erachteten sie es als einen Wink von oben und 
setzten denVernrtheilten in Freiheit. Dieser abertrug das Bild nach einer Linde und stellte 
es in derselben auf, und seitdem verlor der Baum seine Blätter nicht mehr und blieb 
immergrün. Wegen solchen Wunders holten die Rastenburger das Bild von seinem Platze 
und trugen es in ihre Kirche; da es aber am anderen Morgen wieder in der Linde stand, 
so baute man unter derselben eine Kapelle. So entstand der Walfahrtsort,„Heiligenlinde". 
Auch zur Erinnerung für die Nachkommen an wichtige Ereignisse und rühmens- 
werthe Thaten erachtete man den Jahrhunderte überdauernden Baum für die sicherste 
Urkunde. — An vielen Orten in den deutschen Landen wird noch die Linde gezeigt, unter 
welcher bis in die letzten Jahrhunderte hinab die Gerichtssitzungen gehalten wurden. 
Wie die Sage so gern in der Linde ihre heimatliche Stätte sucht, so rankt sich 
überall in den weiten deutschen Landen das Volkslied um ihre gebogenen Äste und ihre 
herzförmigen Blätter und duftende Blüten tragenden Zweige^). — Im deutschen Helden¬ 
liede, in welchem fast noch ungemildert der heidnische Geist unserer Vorfahren weht, ist 
es vor allen andern Bäumen die Linde, unter welcher gewaltige Thaten vollbracht 
werden. Unter einer Linde tödtete der Nibelungenheld den Drachen, ein Lindenblatt 
verursachte zwischeu seiuen Schultern die verwundbare Stelle, als er sich im Blute des 
erlegten Thiers wälzte, und unter einer Linde wurde er von Hagen ermordet^). 
Neben den Blumen, dem grünen Grase und dem thauigen Klee, dem laubigen 
Walde und dem süßen Sang der Nachtigall ist es von allen Bäumen fast ausschließlich 
die Linde, welcher die Minnesänger ihre Huldigung darbringen, und man findet 
keinen unter ihnen, der nicht von dem schönen Baume und der Nachtigall in dem schatti¬ 
gen Lanbdache gesungen hätte. 
Bei diesem Reichthum der Poesie, die von Alters her durch das grüne Laub der 
Linde rauscht, ist es nicht zum Verwundern, wenn wir auch die neuern Dichter gern in 
ihrem Schatten finden und sie, gleich den Bienen, ihre Schätze ans dem Baume heim¬ 
tragen sehen. Klopstocks hoher, der Religion, der Freundschaft und der Liebe zu¬ 
gewandter Dichternatnr war die Linde ein werthes, ernstes Symbol^). Vor der 
Wohnung des Pfarrers zu Grünan in Voßens „Luise" (I. 1) stehen zwei breitlaubige 
Linden. Bei Schiller findet man den Lindwurm, der in der Nähe des schattenreichen 
Baumes sein Lager aufzuschlagen liebt5). Während der Dichter auf keltischer Erde 
die heil. Jungfrau unter einer Eiche erscheinen läßt (Jungfrau von Orleans I., 10), 
stellt er aus altdeutschem Bodeu Tells muthigen Knaben unter einer Linde aus (III., 3), 
und als die herrliche Gertrud ihrem Gatten Werner Stauffacher Muth ins Herz spricht, 
sitzt er auf der Bank vor seinem Hause in dem Schatten des Baumes (I., 2). 
In Heiterkeit, Schalkheit und Ernst konnte G o eth en die Linde nicht fern sein 6). 
— Könnte bei Hölth, S a l i s und M a t t h i s s o n, dem Kleeblatt der Dichter deut¬ 
scher Gefühlspoesie, die Linde fehlen 7)!— Auch von den neuen Dichtern möchte schwer- 
1) Im preuß. Regierungsbezirk Königsberg. — 2) Der Verf. hat einige mitgetheilt, die Volks- 
tiedersammlungen enthalten davon noch weitere. — 3) Der Verf. theilt aus mittelhochd. Gedichten viele 
Stellen mit, so ans: Künec Ortnides rnervart unde tot (herausg. von Ettmüller. Zürich l838) II., 
Str. 11.12. VII. Str. 29; Künec Luarin (herausg. von Ettmüller. Jena 1829) Str. 17 f., Parzival 
Str. 162. 249; Iw ein Vers 565 f. 604 f.; Tristan undJsolt Vers 16731 f. 16885 f. 17170 f.; aus 
verschiedenen Liedern Walters von der Vogelweide und anderer Minnesänger. — 4) Vgl. Sommer¬ 
nacht. Das Wiedersehen. — 5) Vgl. noch Ritter Toggenburg. — 6) Vgl. Deutscher Parnaß. Der 
Musensohn. Der Wanderer und die Pächterin. Faust. — 7) Vgl. von Hölty: Das Traumbild. 
Elegie ans den Tod eines Landmädchens. Lied eines Mädchens ans den Tod ihrer Gespielin. Lebens- 
Pflichten; von Salis: Herbstabend. Märzlied. Lied eines Landmanns in der Fremde. Lied beim 
Rundgesang; von Matthisson: Eutinersee. Wasserfahrt. Mondscheingemälde.
	        
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