Full text: Für die zweite und erste Klasse der Gymnasien und Realschulen (Teil 3)

233 
zelne Gedichte veröffentlichte und sich begnügte, als geistvoller Forscher und 
Sammler an der großen Arbeit der Wiederentdeckung unsrer Vorzeit teilzu¬ 
nehmen, so wuchs sein Dichterruhm doch von Jahr zu Jahr. Die Lieder 
seiner Jugend konnten nicht veralten. Hochgebildet und doch bürgerlich un¬ 
scheinbar, begeistert für die alte Herrlichkeit des Reichs und das österreichi¬ 
sche Kaisergeschlecht, und doch ein Demokrat, dem die „Fürstenrät'" und „Hof- 
marfchälle mit trübem Stern aus kalter Brust" immer verdächtig blieben; im 
politischen Kampfe furchtlos uni) treu, wie es der Wappenspruch des Landes 
fordert, bis zum trotzigen Eigensinne, — so erschien er den Schwaben als 
der rechte Vertreter der Landesart, als der beste der Stammgenossen. Sie hoben 
ihn auf den Schild und rühmten: „Jedes Wort, das der Uhland gesprochen, 
ist uns gerecht gewesen." 
30. Aus Jakob Grimms Aeden, gehalten bei der 
frankfurter Germanistenversammlung 1646. 
I. Aus der Eröffnungsrede. 
Lassen Sie mich mit der einfachen Frage anheben: Was ist ein Volk? 
und ebenso einfach antworten: Ein Volk ist der Inbegriff von Menschen, 
welche dieselbe Sprache reden. Das ist für uns Deutsche die unschuldigste und 
zugleich stolzeste Erklärung, weil sie mit einmal über das Gitter hinwegspringen 
und jetzt schon den Blick auf näher oder ferner liegende, aber ich darf wohl 
sagen, einmal unausbleiblich heranrückende Zukunft lenken darf, wo alle 
Schranken fallen und das natürliche Gesetz anerkannt werden wird, daß 
nicht Flüsse, nicht Berge Völkerscheide bilden, sondern daß einem Volk, das 
über Berge und Ströme gedrungen ist, seine eigne Sprache allein die Grenze 
setzen kann. Dies mächtige Sprachgefühl hat den Menschen von jeher ihre 
erste Weihe gegeben und sie zu jeder Eigentümlichkeit ausgerüstet. Wer 
nach jahrelangem Auswandern wieder den Boden seiner Heimat betritt, die 
Mütterliche Erde küßt, in wessen Ohr die altgewohnten Laute dringen, der 
fühlt, was er entbehrt hatte und wie ganz er wieder geworden ist. Allen 
edeln Völkern ist darum ihre Sprache höchster Stolz und Hort geworden. 
Welchen großen gewaltigen Baum hat die unsre getrieben, dessen Wachstum 
wir nun schon fast zweitausend Jahre in der Geschichte verfolgen können 
Zwar seine Krone ist ihm abgehauen worden, die gotische Sprache, aber 
das untergehende Volk der Goten hat uns ein teures Vermächtnis hinter¬ 
lassen, ein Denkmal, das noch hinreicht, um über den Gehalt einer Sprache 
zu urteilen, ohne die wir gar nicht imstande wären, weder die feste Regel 
aller nachherigen Entfaltungen deutscher Zunge, noch volle Einsicht in ihren
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.