Full text: Vierunddreißig Lebensbilder aus der deutschen Litteratur

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Neue und neuste Zeit. 
II. Aus der Universität (1765-1771). 
3. In Leipzig (1765—1768). 
Im Herbst 1765 bezog Goethe die Universität Leipzig, um nach dem Willen des Vaters die 
Rechtswissenschaften zu studieren. Mit großem Eifer warf er sich anfangs auf dies Studium, als 
er aber merkte, baß seine Lehrer ihm auch nicht mehr lehren konnten, als er bereits beim Vater 
gelernt, ließ der Eifer bald nach. Desto mehr gefiel ihm das Leipziger Leben auf den Straßen und 
auf den Märkten, an dem er sich lebhaft beteiligte; dadurch gewann er bei seiner scharfen Be¬ 
obachtungsgabe eine reiche Menschen- und Lebenskenntnis, die ihm bei seinen späteren Dichtungen 
zu gute kam. (Zu vergleichen die Verse im „Faust": „Mein Leipzig lob' ich mir! — Es ist ein 
klein Paris und bildet seine Leute"). Das Theaterleben Leipzigs zog ihn mächtig an. Mit Geliert 
kam er in nähere Berührung und besuchte fleißig „dessen Vorlesungen; wie er die allgemeine Ver¬ 
ehrung für diesen Dichter teilte, beweisen seine Äußerungen, die in den Mitteilungen über Gellerts 
Leben (Nr. 16) Aufnahme gefunden haben. 
Immer reger ward in dem Jüngling der Drang, seine Erlebnisse poetisch zu gestalten; so 
waren auch diese ersten Gedichte, die verloren gegangen sind, wahre „Gelegenheitsgedichte," wie es 
seine späteren Lieder sämtlich sind. Seine Neigung für das Zeichnen erwachte von neuem und 
stärker durch die Bekanntschaft mit Oeser, dem Direktor der Leipziger Zeichenakademie, bei welchem 
er Privatstunden nahm. Von hohem Wert für Goethe und für seine künstlerische Entwicklung war 
die Anregung, die von Oeser ausging. Im Jahre 1768 schrieb Goethe an seinen früheren Lehrer: 
„Was bin ich Ihnen nicht alles schuldig, daß Sie mir den Weg zum Wahren und Schönen ge¬ 
zeigt!^ Der Geschmack, den ich an allem Schönen habe, meine Kenntnisse, meine Einsicht, hab'ich 
die nicht alle durch Sie?" Mit allem Ernst arbeitete er auch bei dem Kupferstecher Stock, dessen 
Tochter Dora später die Gattin Körners, des Freundes Schillers, und so die Mutter von Theodor- 
Körner wurde. Einige geschickte Radierungen von Goethes Hand sind noch vorhanden. 
Dem Leipziger Aufenthalt setzte ein Blutsturz im Sommer 1768 ein Ende; das darauffolgende 
schmerzliche Krankenlager, die Teilnahme wohlwollender, bedeutender Männer übten einen nach¬ 
haltigen Einfluß auf ihn aus: er war ernster geworden. 
Erst unter der sorgsamen Pflege der treuen Mutter genas er in Frankfurt völlig von seiner 
Krankheit. 
b. In Straßburg (1770 — 1771). 
Nun drang der ernste Vater mit Nachdruck darauf, daß Wolfgang sein juristisches Studium 
beende; die Wahl fiel auf die Universität Straßburg. Der Kreis gebildeter, hochstrebender Männer, 
in welchem er freundliche Aufnahme fand, die Stadt mit ihren altertümlichen Kunstbauten, die 
schöne Umgebung im Elsaß wirkten nachhaltig auf Goethe ein und bewirkten eine entscheidende 
Wendung in seinem Leben und Dichten. 
Am meisten fühlte er sich zu Jung-Stilling und Franz Lerse hingezogen, das ehrliche und 
gerade Wesen des letzteren schätzte er sehr hoch; der Dichter hat diesem Jugendfreunde ein Denkmal 
in seinem „Götz" gesetzt. Geradezu entscheidend für Goethes dichterisches Schaffen wurde der ver¬ 
traute Umgang mit Herder, der wegen einer Augenoperation sich längere Zeit in Straßburg auf¬ 
hielt. Was er diesem Mann verdankt, hat Goethe selbst in „Dichtung und Wahrheit" anerkannt 
(siehe unten 6, 5 und die Einleitung zu Nr. 19). 
Goethes erster Besuch in Straßburg galt dem Münster; welchen Eindruck der herrliche Bau 
auf ihn gemacht, ist am besten aus seiner eigenen Schilderung zu ersehen (s. unten 0, 9). Hier 
trat ihnffdas vollendetste Werk deutscher Baukunst entgegen; so liebevoll hat sich niemand in das 
Studium dieses Wunderbaues versenkt, derselbe wurde sein Lehrer der Geheimnisse und Regeln 
der deutschen Baukunst. 
Im Oktober 1770 wurde er durch einen Freund in das patriarchalische Pfarrhaus zu Sesen- 
heim, einem etwa sechs Stunden von Straßburg gelegenen Dorfe, eingeführt. Durch Friederike, 
die zweite Tochter des Pfarrers Brion, wurde dieses Pfarrhaus bald ein mächtiger Anziehungs¬ 
punkt für den in Jugendschönheit prangenden Jüngling. Das herrlich erblühende Mädchen machte 
in seiner ländlichen Lieblichkeit einen tiefen Eindruck auf den Dichter, sie wurde seine Muse, die ihn 
zu tief empfundenen Liedern begeisterte. Zu einem Bunde für das Leben führte diese Liebe nicht, 
aber noch in seinem spätern Alter erfüllte ihn die Erinnerung an sie mit Sehnsucht und Wehmut. 
Um dem Vater zu Willen zu sein, legte er die juristische Prüfung ab und kehrte als Doktor 
der Rechte in das väterliche Haus zurück (Herbst 1771). 
III. Dichtungen ans der Sturm- und Drangperiode (1771—1775). 
Durch seinen Straßburger Aufenthalt war seinem Denken und Dichten eine entschieden deutsche 
Richtung gegeben. Die Beschäftigung mit der mittelalterlichen Geschichte, besonders die Lektüre der 
Handschrift des Ritters „Götz mit der eisernen Hand" hatte in ihm den Plan rege werden lassen, 
den Götz, dieses Bild eines kerndeutschen Mannes, zum Helden eines Dramas zu machen. Diesen 
Plan brachte er aus Straßburg mit, in Frankfurt machte er sich an die Ausführung, angeregt und 
getrieben von seiner Schwester, die an seiner ernsten Arbeitsfähigkeit zweifelte. Die erste Bearbeitung 
brachte er„mit nach Wetzlar, wo er sich am Reichskammergericht zum praktischen Juristen ausbilden 
wollte. Über die erste Bearbeitung schrieb er an einen Freund: „Mein ganzer Genius liegt auf 
einem Unternehmen, ich dramatisiere die Geschichte eines der edelsten Deutschen, rette das Andenken 
eines braven Mannes, und die viele Arbeit, die mich's kostet, macht mir einen wahren Zeitvertreib, 
den ich hier so nötig brauche."
	        
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