Full text: Vierunddreißig Lebensbilder aus der deutschen Litteratur

Das Nibelungenlied. 
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I. 
Das Volksepos. 
1. Das Nibelungenlieb. 
Übersetzt von Simrock. 
Die Anfangsworte des Hildebrandsliedes: „Ich hörte sagen", kehren in vielen epischen 
Dichtungen der alten Zeit wieder. Der Erzähler berichtet nicht, was er erlebt, oder,, was er er¬ 
sonnen, sondern was im Volke von Geschlecht zu Geschlecht durch lebendige mündliche Überlieferung 
weiter verbreitet, was ihm selbst erzählt worden ist, und ivas er seinen Zuhörern als etwas 
Bekanntes und doch immer wieder mit heller Freude Aufgenommenes erzählt. Diese Über¬ 
lieferungen verherrlichen die ruhmreiche Vergangenheit des ganzen Volkes oder eines Volks¬ 
stammes; es wird gesungen von den wunderbaren Abenteuern der Helden der sagendunkeln Vor¬ 
zeit, von den Großthaten der Könige, an denen der ganze Stamm, eben die Väter der lauschenden 
Zuhörer, ehrenvollen Anteil genommen: es wird gesungen von den Wanderzügen, den Kämpfen 
und Siegen des Volkes, von seiner Treue zum Könige, die im mannhaften, fröhlichen Sterben 
sich am herrlichsten bewährt. Solche Heldendichtungen, die also im Volke entstehen und sich 
fortpflanzen, nennen wir Volksepen; das erhabenste und gewaltigste ist das Nibelungen¬ 
lied. Von einem eigentlichen Dichter solcher Lieder wird schwerlich geredet werden können. 
Die Gelehrten haben über die Entstehung des Nibelungenliedes viel gestritten; manche 
haben höchst scharfsinnig nachzuweisen versucht, daß es aus vielen selbständigen Heldenliedern zu¬ 
sammengefügt sei; andere halten es für das Werk eines einzigen Dichters. (Siehe Scheffel). 
Mit Bestimmtheit lassen sich in unserm Liede zwei gesonderte Dichtungen unterscheiden: 
Siegfrieds Tod, Abenteuer 1 — 19, und Kriemhilds Rache oder der Nibelungen 
Not, Abenteuer 20—39. 
Als Zeit der Aufzeichnung nimmt man das letzte Viertel des 12. Jahrhunderts an. 
Abgesehen von einer Anzahl von Bruchstücken und Handschriften jüngeren Alters haben wir drei 
vollständige Handschriften aus dem l3. Jahrhundert; zwei derselben sind im Schlosse Hohenems 
im Vorarlbergischen aufgefunden worden, die eine, in der Königlichen Bibliothek zu München 
aufbewahrt, bezeichnet man als die Hohenems-Münchener, die andere, im Besitze des Freiherrn 
von Laßberg aus Mörsburg, heißt die Hohenems - Laßbergische. Die dritte befindet sich in 
St. Gallen und wird darum die St. Galler Handschrift genannt. 
Im Nibelungenliede berühren sich 5 Sagenkreise: der niederrheinische oder fränkische, dessen 
Hauptheld Siegfried in Santen am Niederrheine ist, — der burgundische mit den Helden Günther, 
Gerenot, Geiselher, Hagen, Volker und den Königinnen Ule und Kriemhild in Worms — der 
nordische, dessen Heldin Brunhild auf dem Jsensteine ist — der hunnische mit König Etzel, 
umgeben von seinen zahlreichen Vasallenkönigen, unter denen der deutsche Markgraf Rüdiger von 
Bechlaren die erste Stelle einnimmt — der vstgotische mit Dietrich von Bern (Verona) und 
seinen Amelungenhelden, unter denen Hildebrand besonders hervorragt. 
Jeder dieser Kreise hat seine besonderen Heldenlieder, in denen einzelne Helden verherrlicht 
werden, im Nibelungenliede werden die Helden sämtlicher Kreise in Verbindung mit einander 
gebracht, obgleich viele von ihnen, soweit sich ihre geschichtliche Existenz überhaupt nachweisen 
läßt, der Zeit nach niemals mit einander in Berührung haben kommen können. Das ist eben 
das Eigentümliche der Heldensage, daß sie aus geschichtliche Wirklichkeit keine Rücksicht nimmt; 
mit um so größerer Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit ist aber das gesamte Volksleben, die volks¬ 
tümliche Gesinnung und Sitte dargestellt, und so werden unsere Volksepen, insonderheit das 
Nibelungenlied, zu einem Spiegel des gesamten Lebens unserer Väter, und wir vermögen in 
jenen dieselben Grundzüge und Tugenden wiederzuerkennen, welche, Gott sei Dank, auch heute 
noch das deutsche Volk zieren. 
V. 1. Wie Kriemhilden träumte. 
I. Mittelhochdeutsch. 
1. Uns ist in alten inneren Wunders vil geseit, 
von beiden lobebaeren, von grözer arbeit, 
Von fröuden hochgezite, von weinen und von klagen, 
von küener recken strite, Hinget ir nu wunder hoeren sagen. 
2. Ez wuchs in Burgonden, eine schoene magadin, 
daz. in allen landen niht schoeners nichte sin, 
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