Full text: Vierunddreißig Lebensbilder aus der deutschen Litteratur

Das Nibelungenlied. 
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2. Wie Siegfried nach Worms kam und Kriemkilden zuerst sah. 
1. Da wuchs im Niederlande eines edlen Königs Kind, 
Siegmund hieß sein Vater, die Mutter Sieglind, 
in einer mächt’gen Feste, weithin wohlbekannt, 
unten am Rheine, Santen war sie genannt. 
2. Siegfried war geheißen der schnelle Degen gut. 
Er erprobte viel der Recken in hochbeherztem Mut; 
seine Stärke führt ihn in manches fremde Land, 
hei, was er schneller Degen bei den Burgunden fand. 
3. Bevor der kühne Degen voll erwuchs zum Mann, 
da hatt’ er solche Wunder mit seiner Hand gethan, 
davon man immer wieder singen mag und sagen; 
wir müssen viel verschweigen von ihm in heut’gen Tagen. 
Siegfried ist mit nur 12 Recken in Worms erschienen, um allein mit seiner Hand Kriem- 
kild zu gewinnen. Er verweilt, ohne zu werben und ohne die schöne Kriemhild zu sehen, 
ein volles Jahr am burgundischen Hofe. In dieser Zeit hat er den Burgunden im Sachsen¬ 
kriege unschätzbare Dienste erwiesen; da endlich, bei Gelegenheit des veranstalteten Sieges¬ 
festes, wird sein sehnlicher Wunsch, die königliche Jungfrau zu sehen, erfüllt. 
4. Da kam die Minnigliclie, wie das Morgenrot 
tritt aus trüben Wolken. Da schied von mancher Not, 
der sie im Herzen hegte, was lange war geschehn, 
er sah die Minnigliclie nun gar herrlich vor sich stehn. 
5. Von ihrem Kleide leuchtete gar mancher ed’le Stein; 
ihr’ rosenrote Farbe gab minniglichen Schein. 
Was jemand wünschen mochte, er mußte doch gestehn, 
daß er hier auf Erden noch nicht so Schönes gesehn. 
6. Wie der lichte Vollmond vor den Sternen schwebt, 
des Schein so hell und lauter sich aus den Sternen hebt, 
so glänzte sie in Wahrheit vor andern Frauen gut, 
das mochte wohl erhöhen den zieren Helden den Mut. 
7. Da sah man den Sieglinden-Sohn so minniglich da stehn, 
als ob er wär’ entworfen auf einem Bergamen 
von guten Meisters Händen; gern man ihm gestand, 
daß man nie im Leben so schönen Helden noch fand. 
8. Als sie den Hochgemuten vor sich stehen sah, 
ihre Farbe ward entzündet; die Schöne sagte da: 
„Willkommen, Herr Siegfried, ein edler Ritter gut!“ 
Da ward ihm von dem Gruße gar wohl erhoben der Mut. 
9. „Nun lohn’ euch Gott, Herr Siegfried“, sprach das schöne Kind, 
„daß ihr das verdientet, daß euch die Recken sind 
so hold mit ganzer Treue, wie sie zumal gestehn“. 
Da begann er Frau Kriemhilden minniglich anzusehn. 
10. „Stets will ich ihnen dienen“, sprach Siegfried der Degen, 
„und will mein Haupt nicht eher zur Ruhe niederlegen, 
bis ihr Wunsch geschehen, so lang’ mein Leben währt; 
das thu’ ich, Frau Kriemhild. daß ihr mir Minne gewährt.“ 
3. Wie Günther Brunhilden gewann. 
1. Es war eine Königstochter gesessen über Meer, 
ihr zu vergleichen war keine andre mehr. 
Schön war sie aus der Maßen und groß ihre Kraft, 
sie schoß mit schnellen Degen um ihre Minne den Schaft.
	        
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