Full text: Vierunddreißig Lebensbilder aus der deutschen Litteratur

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20. Johann Wolfgang von Goethe. 
d. Aus „Hermann und Dorothea". 
\. Ich tadle nicht gern, was immer dem Menschen 
für unschädliche Triebe die gute Mutter Natur gab; 
denn was verstand und Vernunft nicht immer vermögen, vermag oft 
solch ein glücklicher Hang, der unwiderstehlich uns leitet. 
Lockte die Neugier nicht den Menschen mit heftigen Neizen, 
sagt, erführ' er wohl je, wie schön sich die weltlichen Dinge 
gegen einander verhalten? Denn erst verlangt er das Neue, 
suchet das Nützliche dann mit unermüdetem Fleiße; 
endlich begehrt er das Gute, das ihn erhebet und wert macht. 
In der Jugend ist ihm ein froher Gefährte der Leichtsinn, 
der die Gefahr ihm verbirgt und heilsam geschwinde die Spuren 
tilget des schmerzlichen Übels, sobald es nur irgend vorbeizog. 
Freilich ist er zu preisen, der Mann, dem in reiferen Jahren 
sich der gesetzte verstand aus solchem Frohsinn entwickelt, 
der im Glück wie im Unglück sich eifrig und thätig bestrebet; 
denn das Gute bringt er hervor und ersetzet den Schaden 
2. T>et Glückliche glaubt nicht, 
daß noch Wunder geschehn; denn nur im Glend erkennt man 
Gottes Hand und Finger, der gute Menschen zum Guten leitet. 
3. Manch gutes Mädchen bedarf des schützenden Mannes, 
und der Mann des erheiternden weib's, wenn ihm Unglück bevorsteht. 
was im Menschen nicht ist, kommt auch nicht aus ihm. 
5. Gin geschäftiges Weib thut keine Schritte vergebens. 
6. wer lange bedenkt, der wählt nicht immer das Beste. 
7. vieles wünscht sich der Mensch und doch bedarf er nur wenig; 
denn die Tage sind kurz und beschränkt der Sterblichen Schicksal. 
8. Der Augenblick nur entscheidet 
über das Leben des Menschen und über sein ganzes Geschicke; 
denn nach langer Beratung ist doch ein jeder Gntschluß nur 
Werk des Moments, es ergreift doch nur der verständ'ge das Rechte. 
9- Glücklich, wem doch Mutter Natur die rechte Gestalt gab! 
Denn sie empfiehlet ihn stets und nirgends ist er ein Fremdling. 
j0. Dienen lerne bei Zeiten das Weib nach ihrer Bestimmung; 
denn durch Dienen allein gelangt sie endlich zum Herrschen, 
zu der verdienten Gewalt, die doch ihr im Hause gehöret. 
Dienet die Schwester dem Bruder doch früh, sie dienet den Gltern, 
und ihr Leben ist immer ein ewiges Gehen und Kommen, 
oder ein Heben und Tragen, Bereiten und Schaffen für andre. 
Wohl ihr, wenn sie daran sich gewöhnt, daß kein Weg ihr zu sauer 
wird, und die Stunden der Nacht ihr sind wie die Stunden des Tages, 
daß ihr niemals die Arbeit zu klein und die Nadel zu fein dünkt, 
daß sie sich ganz vergißt und leben mag nur in andern; 
denn als Mutter, fürwahr, bedarf sie der Tugenden alle, 
wenn der Säugling die Krankende weckt und Nahrung begehret 
von der Schwachen und so zu Schmerzen Sorgen sich häufen. 
Zwanzig Männer verbunden ertrügen nicht diese Beschwerde, 
und sie sollen es nicht, doch sollen sie dankbar es einsehn. 
s s. Liebe die Liebenden rein und halte dem Guten dich dankbar. 
Aber dann auch setze nur leicht den beweglichen Fuß auf; 
denn es lauert der doppelte Schmerz des neuen Verlustes. 
Heilig fei dir der Tag; doch schätze das Leben nicht höher 
als ein anderes Gut, und alle Güter sind trüglich.
	        
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