Full text: Vierunddreißig Lebensbilder aus der deutschen Litteratur

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Neue und neuste Zeir. 
2. Dort saß ein stolzer König, an Land und Siegen reich, 
er saß auf seinem Throne so finster und so bleich; 
denn was er sinnt, ist Schrecken, und was er blickt, ist Wut, 
und was er spricht, ist Geißel, und was er schreibt, ist Blut. 
3. Einst zog nach diesem Schlosse ein ed’ies Sängerpaar, 
der ein’ in gold’nen Locken, der and’re grau von Haar • 
der Alte mit der Harfe, der saß auf schmuckem Roß, 
es schritt ihm frisch zur Seite der blühende Genoss’. 
4. Der Alte sprach zum Jungen: „Nun sei bereit, mein Sohn! 
Denk uns’rer tiefsten Lieder, stimm’ an den vollsten Ton; 
nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz! 
Es gilt uns heut’, zu rühren des König’s steinern Herz.“ 
5. Schon stehn die beiden Sänger im hohen Säulensaal, 
und auf dem Throne sitzen der König und sein Gemahl; 
der König, furchtbar prächtig wie blut’ger Nordlichtschein, 
die Königin, süß und milde, als blickte Vollmond drein. 
6. Da schlug der Greis die Saiten, er schlug sie wundervoll, 
daß reicher, immer reicher der Klang zum Ohre schwoll. 
Dann strömte himmlisch helle des Jünglings Stimme vor, 
des Alten Sang dazwischen wie dumpfer Geisterchor. 
7. Sie singen von Lenz und Liebe, von sel’ger, gold’ner Zeit, 
von Freiheit, Männerwürde, von Treu’ und Heiligkeit. 
Sie singen von allem Süßen, was Menschenbrust durchbebt, 
sie singen von allem Hohen, was Menschenherz erhebt. 
8. Die Höflingsschar im Kreise verlernet jeden Spott, 
des Königs trotz’ge Krieger, sie beugen sich vor Gott, 
die Königin, zerflossen in Wehmut und in Lust, 
sie wirft den Sängern nieder die Rose von ihrer Brust. 
9. „Ihr habt mein Volk verführet, verlockt ihr nun mein Weib?“ 
Der König schreit es wütend, er bebt am ganzen Leib, 
er wirft sein Schwert, das blitzend des Jünglings Brust durchdringt, 
draus statt der gold’nen Lieder ein Blutstrahl hoch aufspringt. 
10. Und wie vom Sturm zerstoben ist all der Hörer Schwarm, 
der Jüngling hat verröchelt in seines Meister Arm, 
der schlägt um ihn den Mantel und setzt ihn auf das Roß, 
er bind’t ihn aufrecht feste, verläßt mit ihm das Schloß. 
11. Doch vor dem hohen Thore, da hält der Sängergreis, 
da faßt er seine Harfe, sie aller Harfen Preis, 
an einer Marmorsäule, da hat er sie zerschellt, 
dann ruft er, daß es schaurig durch Schloß und Gärten gellt: 
12. „Weh euch, ihr stolzen Hallen! Nie töne süßer^Klang 
durch eure Räume wieder, nie Saite noch Gesang, 
nein, Seufzer nur und Stöhnen und scheuer Sklavenschritt, 
bis euch zu Schutt und Moder der Rachegeist zertritt. 
13. Weh euch, ihr duft’gen Gärten im holden Maienlicht! 
Euch zeig’ ich dieses Toten entstelltes Angesicht, 
daß ihr darob verdorret, daß jeder Quell versiegt, 
daß ihr in künft’gen Tagen versteint, verödet liegt. 
14. Weh dir, verruchter Mörder! Du Fluch des Sängertums! 
Umsonst sei all dein Ringen nach Kränzen blut’gen Ruhms, 
dein Name sei vergessen, in ew’ge Nacht getaucht, 
sei wie ein letztes Röcheln in leere Luft verhaucht!“
	        
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