Anhang II.
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d. Das weltliche Lied.
Vgl. Volkslied S. 121.
Im weltlichen Lied gelangen diejenigen Gefühle des Dichters zum Ausdruck, welche durch
seine Beziehungen zu der ihn umgebenden Welt: Vaterland, Natur, Beruf, Liebe, Freundschaft u. s. iv.
in ihm geweckt werden. Darum ist das weltliche Lied so recht eigentlich ein Volkslied; in
einem solchen Liede müssen Gefühle, die jeder denkende und fühlende Mensch nachempfinden kann,
in schlichter, allgemein verständlicher Sprache und in sangbarer Form dargestellt werden. Eine
Gruppierung der Lieder ergiebt sich leicht aus den Lebensgebieten und Beziehungen, die ihnen
zugrunde liegen. (Liebeslieder, Naturlieder, vaterländische Lieder, Gesellschaftslieder. Fast jeder
Stand hat seine besonderen Lieder: Jäger-, Soldaten-, Fischer-, Studenten-, Handwerkerlieder u. äst
Die Zahl der deutschen Liedersänger ist ungemein groß: Die mittelalterlichen Minnesänger
(vgl. III, Nr. 4, S. 46), Fleming, Goethe, Claudius, Arndt, Schenkendvrf, Eichendorff, W. Müller,
Rückert, Uhland, Hoffmann, Geibel.
B. Die lyrischen Dichtungen mit dem Zwecke der Belehrung.
Solche Dichtungen entstehen aus der Beobachtung des Thuns und Treibens der Menschen,
der Vorgänge im alltäglichen Leben. Seine Erfahrungen, welche der Dichter an vielen Einzel¬
fällen gemacht, spricht er als eine allgemeine Lebenswahrheit in poetischer Sprache aus.
Werden diese Beobachtungen nicht von einem einzelnen, sondern von vielen in verschiedenen
Zeiten mit stets übereinstimmendem Ergebnis gemacht und in übereinstimmendem Wortlaut kurz
und knapp ausgesprochen, so entsteht ein Sprichw ort (Volkswort). Der Ausdruck ist oft unvoll¬
ständig abgerissen (heute rot, morgen tot — Wie du mir, so ich dir), häufig findet sich der Stab¬
reim (Durch Kreuz zum Kranz. — Rast' ich, so rost' ich), viele sind nur rhythmisch belebt (All¬
zuscharf inacht schartig. — Wer zuletzt lacht, lacht am besten); zweizeilige Sprichwörter sind durch
den Endreim ausgezeichnet (Mit dem Hute in der Hand kommt man durch das ganze Land. —
Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch endlich an die Sonnen).
Die Aussprüche einzelner Denker und Dichter kann man als Kunstsprüche bezeichnen,
ihre rhythmische und strophische Form ist sehr verschieden, wir finden zweizeilige Sprüche (kurze
Reimpaare) z. B. bei Freidank (Gott dienen ohne Wank, ist aller Weisheit Anfang) bei Logau
(Freude, Mäßigkeit und Ruh'
schließt dem Arzt die Thüre zu),
vierzeilige Sprüche bei Freidank, Logau, Goethe, Rückert, Geibel u. a. (Beispiele sind den
betreffenden Lebensbildern in reicher Auswahl beigefügt).
Wenn volkstümliche und kunstmäßige Sinnsprüche zu einem ^größeren Ganzen vereinigt
werden, so entsteht ein Spruch gedieht; dies ist dann gleichsam die Summa der Lebensweisheit
eines Volkes, ein Zeit- und Sittenspiegel. (Freidanks Bescheidenheit — Rückert, Weisheit des
Brahmanen).
Ein Lehrgedicht im weiteren Sinne ist „Das Lied von der Glocke".
Ein Sinnspruch ist auch das Epigramm. Die eigentliche Bedeutung des Wortes ist
„Aufschrift", nämlich auf Geräten, Denkmälern u. s. w. Diese Bestimmung läßt die möglichste
Kürze solcher Sprüche voraussetzen. Im weiteren Sinne ist es dann ein kurzer Denkspruch, der
sich auf eine Person, ein Ereignis u. s. w. bezieht.
Die gebräuchlichste Form ist das Distichon, aber auch der Alexandriner und andere ein¬
fachere Formen gelangen zur Verwendung.
(Dichter: Logau, Lessing, Goethe, Schiller, Rückert, Geibel).
III. Die dramatische Poesie.
Drama bedeutet „Handlung"; ini Epos wird die Handlung als vergangen erzählt, im
Drama entwickelt sie sich vor den Augen des Zuschauers; somit ist die dramatische Poesie der
epischen verwandt. Während der Entwickelung der Handlung werden auch die Empfindungen und
Urteile der beteiligten Personen ausgesprochen; wir erfahren sie aus ihren Selbstgesprächen (Monolog)
oder in Wechselgesprächen (Dialog). So hat die dramatische Dichtkunst auch Beziehungen zur lyrischen.
Der Stoff des Dramas, den man die Fabel des Stückes nennt, ist aus der Sage, der
Mythe, der Geschichte, dem Menschenleben entlehnt oder vom Dichter frei erfunden.
Die Neueinführung von Personen und die dadurch gegebene Fortführung der Handlung ist
eine Scene, die Zusammenfassung mehrerer innerlich zusammengehöriger Scenen heißt ein Akt.
Größere Dramen haben deren fünf oder drei. In jedem Drama muß ein Hauptheld vorkommen,
der am bedeutendsten in die Handlung eingreift, und zu welcher die Nebenpersonen in freundlicher
oder feindlicher Gesinnung Stellung nehmen.
1. Das Trauerspiel (Tragödie)
ist eine dramatische Dichtung ernsten Inhalts; der Held erstrebt ein hohes Ziel und gerät dabei
in Widerspruch und Kampf mit dem Schicksal und der Außenwelt. Er lehnt sich gegen bestehende
sittliche Verhältnisse und Gesetze in den verschiedenen Lebensgebieten (Familie, Gemeine, Vater¬
land, Kirche) auf und ladet so eine Schuld auf sich, die er durch seinen Untergang büßt. Wenn
sein Ringen, Kämpfen und Sterben unser. Mitleid erwecken soll — und das ist der Hauptzweck des