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auf Jahre zurückwarf. Der treue Sohn erholte sich nur langsam von dem 
schweren Schlage. Ein längerer Aufenthalt in Paris wirkte anregend auf 
ihn; er erquickte sich an den in der Seinestadt aufgespeicherten Kunstschätzen, 
namentlich an denen der Antike und der Renaissancezeit. Immer mehr neigte 
er der französischen Literatur zu und begann schon aus dem Deutschen ins 
ranzösische zu übersetzen, ohne sich doch ganz für die eine oder die andere 
Sprache zu entscheiden. Im Herbst 1857 finden wir ihn in München, im 
Frühjahr 1858 in Begleitung seiner Schwesfter Betsy in Italien Wie sehr 
die italienische Welt, die Kunstschätze und die Landschaft seine Seele befruchteten, 
das beweisen seine späteren Renaissancenovellen, beweisen zahlreiche seiner 
i die deutlich die Eindrücke italienischer Gestalten, Kunstwerke oder 
Landschaften spiegeln. Italien, das so manchen deutschen Künstler unsicher 
und verworren gemacht hat, gab ihm die Gewißheit seine Weng 
Den Ernst des Lebens nehm' ich mit mir fort; 
Den Sinn des Großen raubt mir keiner mehr; 
Ich nehme der Gedanken reichen Hort 
Nun über Land und Meer. 
Verstärkt wurde die dichterische Flamme durch die der Liebe. Er faßte 
nach seiner Heimkehr Zuneigung zu einer jungen Dame, Clelia Weidmann; 
diese wies aber seine Werbung aus Angst vor dem Leben überhaupt zurück 
und starb auch bald. Ihre „stille Lieblichkeit“, ihre zarte, verklärte Gestalt 
wandelt durch viele Dichtungen ihres Verehrees.. E 
Vor die Offentlichkeit wagte sich Meyer zuerst 1864 mit einem kleinen, 
namenlosen Bändchen „Zwanzig Balladen von einem Schweizer“, die 1867 
in zweiter Auflage erschienen. Erst die 1869 folgenden „Romanzen und 
Bilder“ ließ Meyer unter seinem Namen ausgehen. Beide Gedichtbändchen 
fanden freundliche Aufnahme. Doch hat der Dichter ihren Inhalt später einer 
gründlichen Umarbeitung unterzogen. Es fehlte diesen Gedichten noch, wie 
Meyer selbst erkannte, „die Glut einer wärmenden Parteinahme des Herzens“. 
Sie sind noch krampfhaft, mühselig errungen, nicht frei und spielend gebildet. 
Da brachte ein großes Zeitereignis die seltsam vorsichtige Entwicklüng des 
Dichters zum Abschluß, der Krieg von 1870 und der Sieg Deutschlands. 
Die gewaltige nationale Bewegung des mächtigen Brudervolkes riß Meyer 
mit fort. Jetzt entschloß er sich, allem Schwankenden seines Wesens ein Ende 
zu machen und endgültig ein deutscher Dichter zu werden; bis dahin hatte 
ihn die Neigung immer wieder nach Frankreich gezogen. „Achtzehnhundert- 
siebzig“, sagt er später selbst, „war für mich das kritische Jahr. Der große 
Krieg, der bei uns in der Schweiz die Gemüter zwiespältig aufgeregt, ent— 
schied auch einen Krieg in meiner Seele. Von einem unmerklich gereiften 
Stammesgefühl jetzt mächtig ergriffen, tat ich bei diesem weltgeschichtlichen 
Anlasse das frauzosische Wesen ab, und, innerlich genötigt, dieser Sinnes— 
änderung Ausdruck zu geben, dichtete ich „Huttens letzte Tage.“ — 
Auf die fünfundvierzig Jahre scheinbar fruchtloser, schwankender Ent⸗ 
wicklung folgten nun zwanzig der reichsten Erntejahre, als deren erste Frucht 
1872 die im Winter 1870 auf 1871 mit großem, kraftvollem Wurf ausge— 
führte Verserzählung „Huttens letzte Tage“ hervortrat. „Sie ist“, sagt der 
Dichter später selbst, „geboren aus einer jahrzehntelang genährten, individuellen 
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