Fragt man nun, welches bei dieser rätselhaften Vereinigung eines
lebendigen Leibes und seines Abbildes, der Psyche, der „eigentliche Mensch“
sei, so gibt Homer freilich widerspruchsvolle Antworten. Nicht selten (und gleich
in den ersten Versen der Ilias) wird die sichtbare Leiblichkeit des Menschen
als „Er selbst“ der Psyche (welche darnach jedenfalls kein Organ, kein Teil
dieser Leiblichkeit sein kann) entgegengesetzt. Andererseits wird auch wohl das
im Tode zum Reiche des Hades Forteilende mit dem Eigennamen des Lebenden,
als „Er selbst“, bezeichnet, dem Schattenbild der Psyche also — denn dieses
allein geht doch in den Hades ein — Name und Wert der vollen Persönlichkeit,
des „Selbst“ des Menschen zugestanden. Wenn man aber aus solchen Bezeichnungen
geschlossen hat, entweder daß „der Leib“ oder daß vielmehr die Psyche der
„eigentliche Mensch“ sei, so hat man in jedem Falle die eine Hälfte der Aus—
sagen unbeachtet oder unerklärt gelassen. Unbefangen angehört, lehren jene
einander scheinbar widersprechenden Ausdrucksweisen, daß sowohl der sichtbare
Mensch (der Leib und die in ihm wirksamen Lebenskräfte) als die diesem
innewohnende Psyche als das „Selbst“ des Menschen bezeichnet werden können.
Der Mensch ist nach homerischer Auffassung zweimal da, in seiner wahrnehm—
baren Erscheinung und in seinem unsichtbaren Abbild, welches frei wird erst
im Tode. Dies und nichts anderes ist seine Psyche.
Eine solche Vorstellung, nach der in dem lebendigen, voll beseelten
Menschen, wie ein fremder Gast, ein schwächerer Doppelgänger, sein anderes
Ich, als seine „Psyche“ wohnt, will uns freilich sehr fremdartig erscheinen.
Aber genau dieses ist der Glaube der sogenannten „Naturvölker“ der ganzen
Erde, wie ihn mit eindringlicher Schärfe namentlich Herbert Spencer!) ergründet
hat. Es hat nichts Auffallendes, auch die Griechen eine Vorstellungsart teilen zu
sehen, die dem Sinne uranfänglicher Menschheit so nahe liegt. Die Beobachtungen,
die auf dem Wege einer phantastischen Logik zu der Annahme des Doppellebens
im Menschen führten, können der Vorzeit, die den Griechen Homers ihren
Glauben überlieferte, nicht ferner gelegen haben als anderen Volkern. Nicht
aus den Erscheinungen des Empfindens, Wollens, Wahrnehmens und Denkens
im wachen und bewußten Menschen, sondern aus den Erfahrungen eines
scheinbaren Doppellebens im Traum, in der Ohnmacht und Ekstase?) ist der
Schluß und das Dasein eines zwiefachen Lebendigen im Menschen, auf die
Existenz eines selbständig ablösbaren „Zweiten Ich“ in dem Innern des täglich
sichtbaren Ich gewonnen worden. Man höre nur die Worte eines griechischen
Zeugen, der, in viel späterer Zeit, klarer als Homer irgendwo, das Wesen
der Psyche ausspricht und zugleich die Herkunft des Glaubens an solches Wesen
erkennen läßt. Pindar?) lehrt: der Leib folgt dem Tode, dem allgewaltigen.
Lebendig aber bleibt das Abbild des Lebenden („denn dieses allein stammt
von den Göttern“; das ist freilich nicht homerischer Glaube), es schläft aber
(dieses Eidolon), wenn die Glieder tätig sind, aber dem Schlafenden oft im
Traume zeigt es Zukünftiges. — Deutlicher kann nicht gesagt werden, daß an
der Tätigkeit des wachen und vollbewußten Menschen sein Seelenabbild keinen
Teil hat. Dessen Reich ist die Traumwelt; wenn das andere Ich, seiner selbst
unbewußt, im Schlafe liegt, wacht und wirkt der Doppelgänger. In der Tat,
während der Leib des Schlafenden unbeweglich verharrt, sieht und erlebt Er
Menglischer Philosoph, 1820— 1903, baute sein System auf der Entwicklungs—
lehre auf. — ) Verzückung. — ) der große griechische Lyriker, 522442 v. Chr.