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durch Untreue gegen das Geliebte sich einen Thron zu erwerben — was macht 
uns wohl diesen Auftritt zum Gegenstand eines so himmlischen Vergnügens? 
Der Widerspruch ihres gegenwärtigen Zustandes mit dem lachenden Schicksale, 
das sie verschmähten, die anscheinende Zweckwidrigkeit der Natur, welche Tugend 
mit Elend lohnt, die naturwidrige Verleugnung der Selbstliebe sollten uns, 
da sie so viele Vorstellungen von Zweckwidrigkeiten in unsere Seele rufen, 
mit dem empfindlichsten Schmerz erfüllen; — aber was kümmert uns die 
Natur mit allen ihren Zwecken und Gesetzen, wenn sie durch ihre Zweckwidrig¬ 
keit eine Veranlassung wird, uns die moralische Zweckmäßigkeit in uns in 
ihrem vollsten Lichte zu zeigen? Die Erfahrung von der siegenden Macht des 
sittlichen Gesetzes, die wir bei diesem Anblick machen, ist ein so hohes, so 
wesentliches Gut, daß wir sogar versucht werden, uns mit dem Übel auszu¬ 
söhnen, dem wir es zu verdanken haben. Übereinstimmung im Reich der 
Freiheit ergötzt uns unendlich mehr, als alle Widersprüche in der natürlichen 
Welt uns zu betrüben vermögen. 
Wenn Coriolan, von der Gatten- und Kindes- und Bürgerpflicht besiegt, 
das schon so gut als eroberte Rom verläßt, seine Racke unterdrückt, sein Heer 
zurückführt und sich dem Haß eines eifersüchtigen Nebenbuhlers zum Opfer 
dahingiebt, so begeht er offenbar eine sehr zweckwidrige Handlung; er verliert 
durch diesen Schritt nicht nur die Frucht aller bisherigen Siege, sondern rennt 
auch vorsätzlich seinem Verderben entgegen. Aber wie trefflich, wie unaus¬ 
sprechlich groß ist es aus der anderen Seite, den gröbsten Widerspruch mit der 
Neigung einem Widerspruch mit dem sittlichen Gefühl kühn vorzuziehen und 
auf solche Art dem höchsten Interesse der Sinnlichleit entgegen gegen die Regeln 
der Klugheit zu verstoßen, um nur mit der höhern moralischen Pflicht überein¬ 
stimmend zu handeln? Jede Aufopferung des Lebens ist zweckwidrig, denn das 
Leben ist die Bedingung aller Güter; aber Aufopferung des Lebens' in mora¬ 
lischer Absicht ist in hohem Grade zweckmäßig; denn das Leben ist nie für sich 
selbst, nie als Zweck, nur als Mittel zur Sittlichkeit wichtig. Tritt also ein Fall 
ein, wo die Hingebung des Lebens ein Mittel zur Sittlichkeit wird, so muß 
das Leben der Sittlichkeit nachstehen. „Es ist nicht nötig, daß ich lebe, aber 
es ist nötig, daß ich Rom vor dem Hunger schütze," sagte der große Pompejus, 
da er nach Afrika schissen soll und seine Freunde ihm anliegen, seine Abfahrt 
zu verschieben, bis der Seesturm vorüber sei. 
Aber das Leiden eines Verbrechers ist nicht weniger tragisch ergötzend 
als das Leiden des Tugendhaften, und doch erhalten wir hier die Vorstellung 
einer moralischen Zweckwidrigkeit. Der Widerspruch seiner Handlung mit dem 
Sittengesetz sollte uns mit Unwillen, die moralische Unvollkommenheit, die eine 
solche Art zu handeln voraussetzt, mit Schmerz erfüllen, wenn wir auch das 
Unglück der Schuldlosen nicht einmal in Anschlag brächten, die das Opfer 
davon werden Hier ist keine Zufriedenheit mit der Moralität der Personen, 
die uns für den Schmerz zu entschädigen vermöchte, den wir über ihr Handeln 
und Leiden empfinden — und doch ist beides ein sehr dankbarer Gegenstand 
für die Kunst, bei dem wir mit hohem Wohlgefallen verweilen. Es wird 
nicht schwer sein, diese Erscheinung mit dem bisher Gesagten in Übereinstim¬ 
mung zu zeigen. 
Nicht allein der Gehorsam gegen das Sittengesetz giebt uns die Vor¬ 
stellung moralischer Zweckmäßigkeit, auch der Schmerz über Verletzung desselben
	        
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