Full text: Auswahl aus der deutschen Dichtung in ihrer geschichtlichen Entwicklung (Teil 4a = Erg.-Bd. (Poesie))

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2. 
Der Mensch ward Richter. — „Noch ein Wort," rief ihm der majestätische Löwe 
zu, „bevor du den Ausspruch tust! Nach welcher Regel, Mensch, willst du unsern 
Wert bestimmen?" 
„Nach welcher Regel? Nach dem Grade ohne Zweifel," antwortete der Mensch, 
„in welchem ihr mir mehr oder weniger nützlich seid." — 
„Vortrefflich!" versetzte der beleidigte Löwe. „Wie weit würde ich alsdann unter 
den Esel zu stehen kommen. Du kannst unser Richter nicht sein, Mensch! Verlaß 
die Versammlung!" 
3. 
Der Mensch entfernte sich. — „Nun," sprach der höhnische Maulwurf, — (und 
ihm stimmte der Hamster und der Igel wieder bei) — „siehst du, Pferd? Der Löwe 
meint es auch, daß der Mensch unser Richter nicht sein kann. Der Löwe denkt 
wie wir." 
„Aber aus besseren Gründen als ihr!" sagte der Löwe und warf ihnen einen 
verächtlichen Blick zu. 
4. 
Der Löwe fuhr weiter fort: „Der Rangstreit, wenn ich es recht überlege, ist ein 
nichtswürdiger Streit! Haltet mich für den Vornehmsten oder für den Geringsten; 
es gilt mir gleichviel. Genutz, ich kenne mich!" — Und so ging er aus der Ver¬ 
sammlung. 
Ihm folgte der weise Elefant, der kühne Tiger, der ernsthafte Bär, der kluge 
Fuchs, das edle Pferd; kurz, alle, die ihren Wert fühlten oder zu fühlen glaubten. 
Die sich am letzten wegbegaben und über die zerrissene Versammlung am meisten 
murreten, waren — der Affe und der Esel. 
4. Oei» Häler. 
Man fragte den Adler: „Warum erziehst du deine Jungen so hoch in der Luft?" 
Der Adler antwortete: „Würden sie sich, erwachsen, so nahe zur Sonne wagen, 
wenn ich sie tief an der Erde erzöge?" 
5. Oev Catizbän 
1. Ein Tanzbär war der Kett' entrissen, 
Kam wieder, in den Wald zurück 
Und tanzte seiner Schar ein Meisterstück 
Auf den gewohnten Hinterfüßen. 
„Seht," schrie er, „das ist Kunst; das lernt man in der Welt. 
Tut mir es nach, wenn's euch gefällt, 
Und wenn ihr könnt!" „Geh," brummt ein alter Bär, 
„Dergleichen Kunst, sie sei so schwer, 
Sie sei so rar sie sei, 
Zeigt deinen niedern Geist und deine Sklaverei." 
2. Ein großer Hofmann sein, 
Ein Mann, dem Schmeichelei und List
	        
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