Grundzüge der Poetik
Gemäß den „Ausführungsbestimmungen über die Neuordnung des höheren Mädchen¬
schulwesens" vom 12. Dezember 1908 sind Belehrungen über poetische und metrische
Formen nicht systematisch, sondern nur im Anschluß an besprochene Dichtungen
zu geben, aller Schematismus und alles philologische Vielerlei ist zu meiden und sorg¬
fältig darauf zu achten, daß die Schülerinnen die Kunstformen als Mittel künstlerischer
Wirkung, nicht als über der Kunst stehende Normen und Gesetze auffassen.
A. Begriff der Poetik.
Die Poetik ist die Lehre von der Dichtkunst nach ihrem Wesen, ihrem Inhalt
und ihrer Form, nach ihren Darstellungsmitteln und Gattungen.
8. Wesen, Inhalt und Form der Dichtkunst.
1. Die Kunst sucht das Schöne darzustellen.
Das Wort Kunst (— das Können) bezeichnete ursprünglich „das Wissen", die
„Wissenschaft"; diese Bedeutung des Wortes ist noch bewahrt in dem traditionell
festgehaltenen Ausdruck „die sieben freien Künste". Später wird es auch auf die
durch Übung gewonnene Fertigkeit bezogen (z. B. Heilkunst, Kriegskunst); seit dem
18. Jahrhundert wird „Kunst" schlechthin als gleichbedeutend mit „schöne Kunst"
für die auf einen ästhetischen Genuß hinzielende Tätigkeit gebraucht.
2. Schön ist das, was ohne Rücksicht auf einen zu erreichenden Zweck durch sich
selbst und an sich selbst gefällt. Dadurch unterscheidet sich das Schöne vom
Angenehmen und Nützlichen, das unser Wohlgefallen erregt, weil es unseren
Bedürfnissen und Wünschen entgegenkomnck.
Das Wort „schön" wird abgeleitet von der germanischen Wurzel skau — „schauen,
ansehen, besehen" und heißt als Mittelwort der Vergangenheit soviel als geschaut,
mit Befriedigung, mit Vergnügen geschaut. Ursprünglich konnte nur das schön
genannt werden, was einen angenehmen Eindruck auf den Gesichtssinn macht.
Jedoch ist die Bedeutung frühzeitig verallgemeinert und auch auf die übrigen Sinne
bezogen.