Full text: Auswahl aus der deutschen Dichtung in ihrer geschichtlichen Entwicklung (Teil 4a = Erg.-Bd. (Poesie))

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165 Es habe seiner Krankheit Qual 
Art und Gewalt verschiednerlei, 
Die auch bisweilen heilbar sei. 
Drum hegt er wohl im Herzen leise 
Noch Wahn und Hoffen mancherweise 
Und dachte doch, daß seine Pein 170 
Vielleicht noch möchte heilbar sein. 
In dieser Hoffnung reist der arme Heinrich zu einem vielgerühmten Arzt nach 
Montpellier, der ihm aber den letzten Trost benimmt und ihn für unheilbar erklärt. Von 
dort fährt er nach Salerno, wo ihm ein Arzt volle Gesundheit zusagt für den Fall, daß 
eine unschuldige Jungfrau ihr Herzblut für ihn hingebe. 
Da sah der arme Heinrich ein, 
Es werde ganz unmöglich sein, 
Daß jemand den erwürbe, 
175 Der gerne für ihn stürbe. 
So war ihm denn der Trost benommen, 
Um den er war dahin gekommen, 
Und blieb ihm von der Stunde an 
Keine Hoffnung und kein Wahn, 
180 Daß ihm noch könnte Heil erblühn. 
Seine Schmerzen, seine Mühn 
Wurden ihm so groß und hart, 
Daß er schier verzweifelt ward, 
Wie er länger sollte leben. 
185 Er fuhr nach Haus, um fortzugeben 
Sein Erb' und auch sein fahrend Gut, 
Wie weiser Rat und eigner Mut 
Ihn lehrten, wo zu diesem Ende 
Am allerbesten er's verwende. 
190 Er reichte mit bescheidnem Sinn 
Sein Gut an arme Freunde hin 
Und tröstete auch fremde Armen, 
Daß Gott sich möchte sein erbarmen 
Und schenken seiner Seele Heil; 
195 An Kirchen fiel das andre Teil. 
Der reiche Herr entäußert' sich 
All seines Guts bescheidentlich 
Bis auf ein Gereutes; 
Dort floh er alle Leute. 
200 Diese traurige Geschicht' 
Entlockt allein ihm Klagen nicht, 
Es klagt um ihn das ganze Land, 
Darin sein Schicksal wohlbekannt. 
Und auch in fremden Landen sprach 
205 Man jammernd von der eklen Schmach. 
Der das Gereut besaß zuvor 
Und fürderhin auch nicht verlor, 
Das war ein freier Bauersmann. 
Von solchem Ungemach gewann 
210 Der fürwahr nicht eben viel, 
Wie's andre Bauern wohl befiel, 
Die in so böser Frone stunden. 
Daß nimmer Schonung sie gefunden 
Mit ihrer Steuer bei dem Herrn. 
Was dieser Bauer zollte gern, 215 
Das war auch seinem Herrn genug, 
Der noch dabei die Sorge trug, 
Daß ihm von keiner fremden Macht 
Werd' irgend welche Not gebracht. 
Im ganzen Lande weit und reich, 220 
War diesem wohl kein andrer gleich. 
So zog denn in des Bauern Haus 
Der arme Heinrich nun hinaus, 
Und was er jemals ihm erspart', 
Wie wohl das nun vergolten ward, 225 
Und wie schön er das genoß! 
Weil's gar wenig den verdroß, 
Was ihm etwa für Beschwerde 
Durch den Gast bereitet werde. 
Nein, er ertrug in Treuen gern 230 
Die Mühen um den lieben Herrn 
Und sorgte nicht um seinetwegen, 
Um nur des Herren wohl zu pflegen. 
Dem Meier hatte Gott gegeben 
Nach seiner Gnad' ein reines Leben; 235 
Zur Arbeit stark war ihm der Leib; 
Auch hatte er ein tätig Weib 
Und Kinder, lieb und schön, daran 
Ein Mann sich wohl erfreuen kann; 
Und unter dieser Kinderschar, 240 
Wie man erzählt, auch eines war, 
Ein Mädchen von acht Jahren. 
Freundliches Gebaren 
Schmückte vor den andern sie. 
Die wollte von dem Herren nie 245 
Auch weichen nur um einen Fuß. 
Um seine Huld und seinen Gruß 
Dient' ihm sie allewege 
Mit ihrer frommen Pflege. 
x) Ein Stück Land, das durch Roden urbar gemacht ist.
	        
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