Full text: Auswahl aus der deutschen Dichtung in ihrer geschichtlichen Entwicklung (Teil 4a = Erg.-Bd. (Poesie))

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Zu lösen des Anfortas Bann. 
Drum harrten stets sie auf den Mann 
45 Und auf die hilfereiche Stunde 
Der Frage aus des Retters Munde; 
Sie spähten ans in Berg und Tal. 
Doch leer blieb Halle, ach! und Saal. 
Und da der hohe Gast nicht kam, 
50 So sann in seinem Schmerz und Gram 
Der kranke König eine List, 
Zu kürzen sich des Lebens Frist. 
Er senkte seine Augenlider, 
Trug man ihn zu dem Gral hernieder, 
55 Um ja den Hehren nicht zu sehn 
Und endlich so zum Tod zu gehn. 
Einstmalen hielt er vier der Tage 
Dies standhaft aus und ohne Klage, 
Doch mocht's ihm lieb sein oder leid, 
60 Am fünften zwang ihn Schwächlichkeit, 
Zu öffnen wiederum die Augen 
Und neues Leben einzusaugen. 
Es standen zu derselben Zeit 
Am Himmelszelt in Widerstreit 
65 Der Mars sich und der Jupiter. 
Darunter litt unsäglich schwer 
Der Kranke, und sein Schmerzensstöhnen 
Hört' durch die Burg man widertönen, 
Daß allen fast das Herz zerbricht; 
70 Doch ach! zu helfen war ihm nicht. 
Seid nur getrost! Jetzt wird sich's wenden 
Und alle Not und Trübsal enden. 
Heut noch wird Heil dem Kranken kommen. 
Horch! Eine Kunde wird vernommen: 
75 Vom Walde her mit Rittern ziehe 
Des Grales Botin dort, Kondrie. 
So war es auch. Nicht konnt' erkunden 
Ich recht, wie viele Tagesstunden 
Sie wohl schon unterweges waren. 
80 Ein Rottenmeister tät gewahren 
Zuerst sie an dem Waldesrande. 
Als er die Tauben am Gewände 
Erglänzen sah der edlen Maid, 
Rief er: „Zu End' ist unser Leid; 
85 Mit unsrer Botin eingetroffen 
Ist er, ans den so lang' wir hoffen. 
Merkt auf, denn unser Heil ist nah!" 
Man ward sie dorten bald gewahr; 
Manch edler Ritter, grau von Haar, 
90 Und schlanker Knappen flink Gesind, 
Die eilten allesamt geschwind 
Auf Wegen und ans Stegen 
Den Kommenden entgegen. 
Ein Kämnlerer führt' sie in den Saal, 
Wo wiederum wie dazumal, 95 
Als erstmals ihn der Held betrat, 
Ihn grüßt', gewebt aus Goldpalmat, 
Des Estrichs teppichreicher Flimmer. 
Stracks bracht' voll lichtem Goldesschimmer 
Den Helden man ein reich Gewand. 100 
Ein Willkommgruß auch war zur Hand, 
In steingeschmückten goldnen Bechern 
Trug man den Wein den hehren Zechern; 
Doch säumten sie nicht allzulang. 
Schon harrte sehnlich zum Empfang 105 
Anfortas, der die Mär' vernommen, 
Held Parzival sei angekommen. 
Ihr wißt, der Arme konnt' nicht gehn, 
Nicht sitzen, liegen oder stehn, 
Er mußt' mit Lehnen sich begnügen. 110 
Doch wußte heut er zu besiegen 
Der Schmerzen herbe Pein und Qual, 
Er grüßte freundlich Parzival 
Und sprach: „Gar lange, bange Tage 
Harr' hier mit Schmerzen ich und Klage 115 
Und flehe, daß man mir den Tod 
Vergönn' als Ende meiner Not. 
Ist Euer Name Parzival, 
So bitt' ich Euch, entzieht den Gral 
Acht Tage nur ans meinem Blick, 120 
So endigt sich mein Mißgeschick! 
Wohl Euch! Kann bald von Euch man sagen: 
Er stillte des Anfortas Klagen. — 
Ach! Weiteres darf ich nicht künden!" 
„O könnt' ich endlich doch ergründen," 125 
Sprach händeringend Parzival, 
„Wie es gemeint ist mit dem Gral." 
Er warf sich betend auf die Erden: 
„Laß, Herr," fleht'er, „es kund mir werden, 
Du siehst mich hier in Demut liegen — 130 
Ob deine Gnade mich läßt siegen, 
Ob du durch mich dich willst erbarmen 
Des Mannes, des unsäglich armen, 
In deiner hohen Herrlichkeit! 
Doch bist du nicht dazu bereit, 135 
So schenk' durch einen sanften Tod 
Erlösung ihm aus seiner Not 
Und seinen todesschweren Schmerzen!" 
So flehte er mit brünst'gem Herzen, 
Und als er das Gebet getan, 140 
Trat zu dem Kranken er heran; 
Von seinem Antlitz ging ein Leuchten, 
Mit Augen heißen, tränenfeuchten 
Frug er: „Herr Oheim, sagt einmal, 
Was schuf Euch diese harte Qual?" 145
	        
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