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Zu lösen des Anfortas Bann.
Drum harrten stets sie auf den Mann
45 Und auf die hilfereiche Stunde
Der Frage aus des Retters Munde;
Sie spähten ans in Berg und Tal.
Doch leer blieb Halle, ach! und Saal.
Und da der hohe Gast nicht kam,
50 So sann in seinem Schmerz und Gram
Der kranke König eine List,
Zu kürzen sich des Lebens Frist.
Er senkte seine Augenlider,
Trug man ihn zu dem Gral hernieder,
55 Um ja den Hehren nicht zu sehn
Und endlich so zum Tod zu gehn.
Einstmalen hielt er vier der Tage
Dies standhaft aus und ohne Klage,
Doch mocht's ihm lieb sein oder leid,
60 Am fünften zwang ihn Schwächlichkeit,
Zu öffnen wiederum die Augen
Und neues Leben einzusaugen.
Es standen zu derselben Zeit
Am Himmelszelt in Widerstreit
65 Der Mars sich und der Jupiter.
Darunter litt unsäglich schwer
Der Kranke, und sein Schmerzensstöhnen
Hört' durch die Burg man widertönen,
Daß allen fast das Herz zerbricht;
70 Doch ach! zu helfen war ihm nicht.
Seid nur getrost! Jetzt wird sich's wenden
Und alle Not und Trübsal enden.
Heut noch wird Heil dem Kranken kommen.
Horch! Eine Kunde wird vernommen:
75 Vom Walde her mit Rittern ziehe
Des Grales Botin dort, Kondrie.
So war es auch. Nicht konnt' erkunden
Ich recht, wie viele Tagesstunden
Sie wohl schon unterweges waren.
80 Ein Rottenmeister tät gewahren
Zuerst sie an dem Waldesrande.
Als er die Tauben am Gewände
Erglänzen sah der edlen Maid,
Rief er: „Zu End' ist unser Leid;
85 Mit unsrer Botin eingetroffen
Ist er, ans den so lang' wir hoffen.
Merkt auf, denn unser Heil ist nah!"
Man ward sie dorten bald gewahr;
Manch edler Ritter, grau von Haar,
90 Und schlanker Knappen flink Gesind,
Die eilten allesamt geschwind
Auf Wegen und ans Stegen
Den Kommenden entgegen.
Ein Kämnlerer führt' sie in den Saal,
Wo wiederum wie dazumal, 95
Als erstmals ihn der Held betrat,
Ihn grüßt', gewebt aus Goldpalmat,
Des Estrichs teppichreicher Flimmer.
Stracks bracht' voll lichtem Goldesschimmer
Den Helden man ein reich Gewand. 100
Ein Willkommgruß auch war zur Hand,
In steingeschmückten goldnen Bechern
Trug man den Wein den hehren Zechern;
Doch säumten sie nicht allzulang.
Schon harrte sehnlich zum Empfang 105
Anfortas, der die Mär' vernommen,
Held Parzival sei angekommen.
Ihr wißt, der Arme konnt' nicht gehn,
Nicht sitzen, liegen oder stehn,
Er mußt' mit Lehnen sich begnügen. 110
Doch wußte heut er zu besiegen
Der Schmerzen herbe Pein und Qual,
Er grüßte freundlich Parzival
Und sprach: „Gar lange, bange Tage
Harr' hier mit Schmerzen ich und Klage 115
Und flehe, daß man mir den Tod
Vergönn' als Ende meiner Not.
Ist Euer Name Parzival,
So bitt' ich Euch, entzieht den Gral
Acht Tage nur ans meinem Blick, 120
So endigt sich mein Mißgeschick!
Wohl Euch! Kann bald von Euch man sagen:
Er stillte des Anfortas Klagen. —
Ach! Weiteres darf ich nicht künden!"
„O könnt' ich endlich doch ergründen," 125
Sprach händeringend Parzival,
„Wie es gemeint ist mit dem Gral."
Er warf sich betend auf die Erden:
„Laß, Herr," fleht'er, „es kund mir werden,
Du siehst mich hier in Demut liegen — 130
Ob deine Gnade mich läßt siegen,
Ob du durch mich dich willst erbarmen
Des Mannes, des unsäglich armen,
In deiner hohen Herrlichkeit!
Doch bist du nicht dazu bereit, 135
So schenk' durch einen sanften Tod
Erlösung ihm aus seiner Not
Und seinen todesschweren Schmerzen!"
So flehte er mit brünst'gem Herzen,
Und als er das Gebet getan, 140
Trat zu dem Kranken er heran;
Von seinem Antlitz ging ein Leuchten,
Mit Augen heißen, tränenfeuchten
Frug er: „Herr Oheim, sagt einmal,
Was schuf Euch diese harte Qual?" 145