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Der Storch betrachtete die Kleine aufmerksam, dann klap¬
perte er freudig mit dem Schnabel und sprach: „Ei, Herr
Wode, freilich kenne ich das Kind, habe ich es doch selbst vor
vier Jahren in das Grafenschloß getragen."
„Wohlan," sagte der Mann, „so bringe es noch einmal
dahin."
Der Storch wiegte den Hals bedenklich hin und her. „Das
wird ein schweres Stück Arbeit," meinte er.
„Es muß sein," sprach der alte Mann. „Hast du nicht
schon oft Zwillinge und sogar Drillinge in deinem Schnabel
getragen? Frisch ans Werk, oder wir sind am längsten Freunde
gewesen."
„Ja, wenn Ihr befehlt, so muß ich gehorchen," entgegnete
der Storch unterwürfig und faßte das Kind mit dem Schnabel
am Gürtel.
„Aber mein Kettlein, mein Schleier und meine Haube,"
mahnte Trndchen in klagendem Ton.
„Die sollen meine Raben den bösen Tieren wieder ab¬
nehmen und dir nachbringen," tröstete der Alte. „Meister
Storch, mach' deine Sache gut!"
Der Mann nickte Trndchen freundlich zu, und im nächsten
Augenblick fühlte sie sich emporgehoben, und der Storch trug
sie durch die Lust.
Hei, das ging schnell wie der Wind. Trndchen schaute in
die Tiefe, da lag der Wald unter ihr wie ein Gartenbeet mit
krauser Petersilie. Dann verging ihr Hören und Sehen.
Als Trndchen wieder zum Bewußtsein erwachte unb die
Augen aufschlug, lag sie im Gras des Schloßgartens, und Frau
Ursula stand vor ihr und sprach scheltend:
„Kind, Kind, hier im feuchten Gras zu liegen und einzu¬
schlafen! Wenn du nun den Schnupfen kriegst, so heißt's wieder:
die alte Ursula gibt auch gar nicht acht auf das Kind — und