Full text: Deutsches Lesebuch für die oberen Klassen höherer Schulen

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sie sich unter Philosophie denken. Gewöhnlich meinen sie, die Philosophie wolle 
zuletzt und als ihr eigentliches Ziel doch nichts anderes als das, was durchaus 
nur Sache der Offenbarung und Religion ist, sie wolle uns nicht allein zur voll¬ 
ständigen und klaren Erkenntnis Gottes und göttlicher Dinge, sondern selbst zur 
Gemeinschaft mit ihm verhelfen, uns einen andern Weg zeigen, zu Gott zu ge¬ 
langen, als den er selbst gezeigt und als den einzig wahren geheiligt hat. In 
der That, wenn sie dies je gewollt hat, so hat sie sich schwer verirrt; aber was 
noch mehr ist, diese Verirrung ist dann auch der Grund gewesen, weshalb sie 
ihre eigenen Aufgaben auch nicht genügend gelöst hat. Denn die Wahrheit ist 
nur eine und dieselbe, und wo sie einmal im wesentlichen verfehlt und verkannt 
wird, da kann sie nach keiner Richtung wieder angetroffen werden. Daher haben 
denn auch die meisten von diesen Philosophen zuletzt entweder ein Bedürfnis 
der Religion anerkannt und die Befriedigung desselben ganz von ihrer Wissen¬ 
schaft ausgeschlossen, oder sie haben ohne ausdrückliche Anerkennung diesem Be¬ 
dürfnisse unterlegen und sind dadurch zuletzt, insofern sie demselben noch durch 
die Wissenschaft genügen wollten, sich selbst untreu geworden. In der That, wer 
fest glaubt an einen persönlichen, lebendigen Gott, an die Schöpfung der Welt 
durch ihn, an seine Leitung der menschlichen Angelegenheiten, an die Erlösung 
des Menschengeschlechts von dem Bösen und der Schuld durch seine Gnade, der 
kann auch nicht glauben, daß man durch irgend etwas anderes als durch eben 
diese Gnade zur Erkenntnis von ihm und endlich zur Wiedervereinigung mit 
ihm gelangen könne. Alles, was der Mensch sonst für gut und verdienstlich hal¬ 
ten mag, alle Einsicht und alles gute Handeln ist, insofern es ihm nicht durch 
die göttliche Gnade kommt oder er es nicht als von ihr gegeben empfängt, immer 
etwas bloß Äußeres, nur Scheinbares, nicht zu seinem wahren Heil Gereichen¬ 
des. Darum heißt es mit Recht, die Gnade Gottes sei höher denn alle Ver¬ 
nunft, weil der Mensch, der sich selbst als ein für sich bestehendes Wesen ansieht 
und mit eignen Kräften Gutes wirken, durch eigne Einsicht das Wahre durch¬ 
dringen, durch eignes Verdienst selig werden will, sich bald von den herrlichsten 
Anlagen seiner Natur verlassen, aus dem Guten in das Böse, aus der Wahr¬ 
heit in den Irrtum verirrt und der höhern Hülfe bedürftig sieht. Wenn man 
also die Wissenschaft als etwas der Art ansieht, das der Mensch bloß durch seine 
eignen Kräfte zu Stande bringe, wenn man gar meint, diese ganz auf zeitlichem 
Boden erwachsene Erkenntnis solle doch in das Ewige eindringen, so ist es na¬ 
türlich, daß man sie nicht bloß für vergeblich und nichtig, sondern selbst für einen 
übermenschlichen Frevel hält. 
Nun möchte man wohl zunächst fragen, was man sich denn unter den übri¬ 
gen menschlichen Bestrebungen und Erkenntnissen denken soll, welche nicht die 
Religion selbst sind, aber auch, wenigstens dem ersten Anscheine nach, die hohen 
und kühnen Absichten nicht haben wie die Philosophie. Was soll man sich also 
denken unter den Erfahrungswissenschaften, unter den Staatseinrichtungen, unter 
den Künsten und so vielen andern menschlichen Dingen, welchen wir eigentüm¬ 
liches Gutes zuschreiben, ohne sie deswegen in den Begriff der Religion aufzu¬ 
lösen noch in ihn auslösen zu können? Wenn wir nicht leugnen, daß auch in 
diesen Dingen das Beste und Heilsamste nur durch ein gottergebenes Gemüt ge¬ 
troffen werden könne, so dürften wir doch darum nicht behaupten, daß sie ganz 
aus demselben Stoffe mit der Religion bestehen. Die bloße Ergebung in den 
Willen Gottes, das Erwarten göttlicher Erleuchtung und selbst die Zubereitung, 
dieselbe zu empfangen, kann doch hier nicht genügen; es werden besonders er- 
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