Full text: Geschichte der neueren und neuesten Zeit (Theil 3)

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hatte sich Joseph II. als Ziel die Wiederbelebung des Kaiser¬ 
thums gestellt, das nur noch ein Name ohne wirkliche Macht war. 
Aber seinen Reformplänen trat das Mißtrauen der deutschen Staaten 
hindernd in den Weg. Friedrich II. arbeitete dem Kaiser auf alle Weise 
entgegen und war die Seele des Widerstandes, der einen Reformplan des 
Kaisers nach dem andern durchkreuzte. Joseph II. faßte darauf Pläne 
für die Vergrößerung und Abrundung seiner ihm einst zufallenden Erb¬ 
staaten. Aber auch seine Absichten auf die Erwerbung Baierns 
wurden durch Friedrich II. vereitelt. 
Bei dem Tode seiner Mutter erhielt Joseph II. einen ganz anderen. 
Wirkungskreis als bisher. Ohne die äußere Politik aus dem Auge zu 
verlieren, wandte er doch seine Hauptthätigkeit auf die inneren An¬ 
gelegenheiten seiner Erblande. Sein Grundgedanke war, aus 
seinen weitläufigen, theilweise weit entlegenen Ländern mit der verschie- 
denartigsten Bevölkerung einen Staat im Sinne seiner Zeit und nach 
dem Vorbilde des preußischen zu schaffen, wo möglich sein Vorbild zu 
übertreffen. Maria Theresia hatte ihre durch Sitte und Sprache 
von einander verschiedenen Völker mit gleicher Liebe umfaßt; sie hatte 
mancherlei Verbesserungen eingeführt, den Staatshaushalt und das Ab- 
gabenwesen geregelt und dadurch die Kraft des Staates bedeutend er¬ 
höht; sie hatte die Frohndienste gemildert, Tortur, Hexenprozesse und 
Inquisition abgeschafft, Normalschulen und Erziehungsanstalten ange- 
legt, Ackerbau und Handel befördert; sie hatte aber selten das Alte mit 
der Wurzel ausgeriffen, sondern meistens nur einzelne Mißbräuche ab- 
gestellt. Joseph II. war von dem Materialismus des Zeitgeistes durch¬ 
drungen. Er war bekannt mit den Grundsätzen der französischen Schrift¬ 
steller, besonders der Physiokraten, der Verfasser der Encyklopädie und 
anderer, die in dem bestehenden gesellschaftlichen Zustande große Umwäl¬ 
zungen beabsichtigten. Er wollte, durch die reinsten und edelsten Beweg¬ 
gründe getrieben, die ganze Regierung, Verwaltung, Gesetzgebung und 
Justiz, sowie die Erziehung, den Unterricht und das kirchliche Wesen 
seiner Staaten umändern. Aber das, wonach er zum Wohle seiner 
Völker strebte, stantz in Widerspruch mit dem Geiste, den Gewohnheiten 
und der Bildungsstufe derselben. Er mußte, um das Bestehende umge¬ 
stalten zu können, zur Gewalt seine Zuflucht nehmen und also oft ge¬ 
gen seinen Willen ein Tyrann sein. Auch erhielt Joseph für seinen 
schöpferischen Drang zu spät, erst im vierzigsten Jahre, den Spielraum, 
den er für seine bildende Thätigkeit suchte. Der Gedanke an die Kürze 
der Zeit und die Größe seiner Aufgabe ries bei ihm eine Raschheit des 
Regierens, eine Neigung zu Entwürfen und eine Uebereilung in der 
Ausführung hervor, die einen nicht geringen Antheil an dem unglück¬ 
lichen Ausgange seiner Unternehmungen hatten. Er theilte mit seinen 
Zeitgenossen die irrthümliche Ansicht, daß auf-dem papiernen Grunde 
der Theorie und deß Verordnens ein dauerhaftes Staatsgebäude errichtet 
werden könne. Auch erschwerte er sich selbst alles, was er unternahm, 
dadurch, daß er stets nur seinem eigenen Sinne folgte und deshalb 
manche Einrichtung machte, welche hernach seinen wohlmeinenden Ab- 
sichten nicht entsprach. Er trieb das Streben, alles selbst zu sehen, viel 
zu weit und ins Kleinliche. Ec umgab sich in seinem Kabinet bloß mit 
Sekretären, arbeitete mit unausgesetzter Thätigkeit Tag und Nacht und
	        
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