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tische" Tragödie „Die Jungfrau von Orleans", ebenso die „Braut von
Messina" und „Wilhelm Tell" griffen ins Mittelalter zurück. Die Ten¬
denzen der siebziger Jahre, die nie ganz verschwunden waren, machten sich
mit neuer und verstärkter Kraft geltend. Die Liebe zum klassischen Alter¬
tum wurde wieder nur eine Richtung neben anderen. Die Völker, die
unter Napoleons Druck seufzten, suchten in der Betrachtung einer schöneren
und größeren Vergangenheit Trost. Patriotismus und Mittelalter war
eine Zeitlang die Losung und die beherrschende Mode. Aber der Univer¬
salismus verschwand daneben so wenig, wie die freieren religiösen Rich¬
tungen neben einer gesteigerten Frömmigkeit. Herders Geist schien die
Manen Winckelmanns abzulösen; und die Tendenzen der literarischen Re¬
volution die in den siebziger Jahren gegen die Aufklärung empor¬
strebten, hießen jetzt: „Romantik". Alle fremden Literaturen, zumeist aber
die altdeutschen und volkstümlichen Dichtungen, erwiesen sich anregend
während die unermeßlichen Errungenschaften der klassischen Epoche dem
Nachwuchs zugute kamen. Alle Wissenschaften und nicht zuletzt diejenigen,
die Herder unmittelbar gefördert hatte, machten neue Anstrengungen, ge¬
wannen neue Gesichtspunkte und bereiteten sich auf einen neuen Aufschwung
vor. Aber was in Herder noch vereinigt war, ging jetzt in verschiedene
Strömungen auseinander. Die Arbeitsteilung wurde größer; die einzelnen
Richtungen hatten mehr Vertreter; weitere Kreise waren dafür gewonnen;
und die Parteien traten sich schroffer entgegen. W. Scherer.
2. Zur Erweiterung dieser Überschau sei noch folgendes hinzugefügt.
Gegenüber einer unleugbaren Gefahr, der Gefahr eines allzu einseitig
der Antike zugewandten „Klassizismus" und einer allzu peinlichen Formen-
strenge, knüpft die Romantik an all jene echt volkstümlich-deutschen und
freien Züge und Anregungen der Klassiker selbst an: an Klopstocks und
Herders vaterländische Weckrufe, an Goethes und Schillers Vorbilder in
deren Jugendwerken und späteren Rückkehr zu heimischen Stoffen und
freieren Gestaltungen. So wirkt sie nach zwei Seiten. Nach der des In¬
halts betont sie einesteils das Volkstümliche, Heimische, besonders auch den
Rückgriff aut altdeutsche und mittelalterliche Dichtung. Andernteils — hier
besonders Herder folgend, doch auch mit Goethe und selbst Schiller sich
berührend — weist sie auf den Wert auch der übrigen Weltliteratur, be¬
sonders der romanischen und der orientalischen hin. Nach Seite der Auf¬
fassung und Form und damit auch der Sprache, des Stils, vertritt sie
allerdings zu Anfang noch — ein Nachhall des „Sturms und Dranges" —
gegenüber der „klassischen" Formvollendung, Geschlossenheit und Klarheit,
die „geniale" oder eben „romantische" Freiheit.und Allherrschaft der
Phantasie, der zügellosen Einbildungskraft. Daher die Regellosigkeit des