Full text: Deutsche Lyrik des 19. Jahrhunderts

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Eduard' Mörike. 
Bei Hellen Augen glaub' ich doch zu schwanken; 
Ich schließe sie, daß nicht der Traum entweiche. 
Seh' ich hinab in lichte Feenreiche? 
Wer hat den bunten Schwarm von Bildern und Gedanken 
Zur Pforte meines Herzens hergeladen, 
Die glänzend sich in diesem Busen baden, 
Goldsarb'gen Fischlein gleich im Gartenteiche? 
Ich höre bald der Hirtenflöten Klänge, 
Wie um die Krippe jener Wundernacht, 
Bald weinbekränzter Jugend Lustgesänge; 
Wer hat das friedenselige Gedränge 
In meine traurigen Wände hergebracht? 
Und welch Gefühl entzückter Stärke, 
Indem mein Sinn sich frisch zur Ferne lenkt! 
Vom ersten Mark des heut'gen Tags getränkt, 
Fühl' ich mir Mut zu jedem frommen Werke. 
Die Seele fliegt, soweit der Himmel reicht, 
Der Genius jauchzt in mir! Doch sage, 
Warum wird jetzt der Blick von Wehmut feucht? 
Jst's ein verloren Glück, was mich erweicht? 
Ist es ein werdendes, was ich im Herzen trage? 
— Hinweg, mein Geist! hier gilt kein Stillestehn: 
Es ist ein Augenblick, und alles wird verwehn! 
Dort, sieh, am Horizont lüpft sich der Vorhang schon! 
Es träumt der Tag, nun sei die Nacht entflohn; 
Die Pnrpurlippe, die geschlossen lag, 
Haucht, halb geöffnet, süße Atemzüge: 
Ans einmal blitzt das Aug', und, wie ein Gott, der Tag 
Beginnt im Sprung die königlichen Flüge! 
In der Frühe. 
Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir, 
Dort gehet schon der Tag hersür 
An meinem Kammersenster. 
Es wühlet mein verstörter Sinn 
Noch zwischen Zweifeln her und hin 
Und schasset Nachtgespenster. 
— Ängste, quäle 
Dich nicht länger, meine Seele! 
Freu' dich! schon sind da und dorten 
Morgenglocken wach geworden.
	        
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