Full text: Lesebuch für höhere Bildungsanstalten (4)

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Die Menschenraubs fahren jach aus ihrem Traum empor vom Pfühl: 
„Maria, hilf, an Klippen nur führ' gnädig du vorbei den Kiel!" 
Und immer lauter klagt herauf der Jammerruf der schwarzen Schaar; 
Des Schiffes Führer schaut ringsum mit finsterm Blick in die Gefahr: 
„Die Schwarzen holt! Die Neger her! Die Stärksten stellt ans Ruder dort! 
Dann lenket ihr, trotz Sturmeswuth, den Kiel nach Prinzen-Eilands Port!" 
Die Fessel klirrt — aus prallt die Schaar! Sie treten taumelnd aufs Berdeck; 
Aus ihrer Mitte ragt hervor des Stammes König, stolz und keck. 
„Die Bande löst ihm! Der hat Mark! — Frisch hin zum Steuer, schwarzer Hund!" 
Das Eisen fällt — er hebt die Hand, vom Druck der Fessel Llutigwund. 
Der König ist's, der seinem Volk den Frieden schaffte und das Recht, 
Der König ist's, der seinen Stamm geführt ins blutige Gefecht, 
Der König ist's, der durch Verrath gefallen in der Feinde Hand, 
Der König, der mit seiner Schaar gefangen ward am Kongo-Strand. 
Und dann verkauft, dann fortgeführt! Dem Weib, dem Kind kein Lebewohl, 
Den Theuren nicht, die er verließ, als jüngst er auszog aus Angol! 
Ha! der Tyrannen Beute nun, gleich ihm geschleppt aufs wilde Meer. 
Wohl rufen flehend jetzt nach ihni die Armen ohne Schutz und Wehr! 
Nach ihm, der am Koanzo-Strand gesessen einst auf goldnem Thron, 
Die goldne Spange trug am Arm und auf dem Haupt die Perlenkron'. — 
Nach ihm, dem Knecht, dem Sklaven nun; — dem Sklaven?! Ha! er trägt es nicht; 
Nein, König noch und fürchterlich, wenn seine Macht die Bande bricht! 
Wie rollt er wild die busch'ge Brau'! Den Spanier trifft des Auges Strahl: 
So flammt des Wüstenkönigs Blick, wenn ihm geraubt sein Mittagsmahl, 
Er ballt die Faust — so droht der Leu, der Panther so, zum Sprung bereit, 
Doch nicht, der wild nach Beute lechzt; nein, der sich kühn vom Netz befreit. 
Er reckt den Arm nach seiner Schaar, gebietend winkt er nach dem Bord — 
Er springt hinab: — „Sieh, Weißer, sieh ! Der König führt sein Volk zum Port!! " 
Dumpf heulten die Gefesselten, ein Sturz — die Schaar begräbt das Meer! — 
Domingo's Bucht erreicht das Schiff, an Beute leicht, an Blutschuld schwer. 
U. Schutts. 
4. Sage und Mythe. 
Sage ist jede wirklich oder angeblich geschichtliche Begebenheit, welche sich im Munde 
des Volkes und unter den Einflüssen persönlicher Zuthaten allmählich in Dichtung ver¬ 
wandelte. Als geschichtliche Quelle verdient die Lrage daher nur eine sehr eingeschränkte 
und vorsichtige Berücksichtigung. Von ihr äußern die Brüder Grimm in Vergleichung 
mit dem Märchen: „Das Märchen ist poetischer, die Sage ist historischer: jenes steht bei¬ 
nahe nur in sich selber fest, in seiner angebornen Blüthe und Vollendung; die Sage, von 
einer geringern Mannigfaltigkeit der Farbe hat noch das Besondere, daß sie an etwas 
Bekanntem und Bewußtem haftet, an einem Orte oder einem durch die Geschichte ge¬ 
sicherten Namen. Aus dieser Gebundenheit folgt, daß sie nicht, gleich dem Märchen, überall 
zu Hause sein könne. Kaum ein Flecken wird sich in ganz Deutschland finden, wo es 
nicht ausführliche Märchen zu hören gäbe, manche dagegen, an denen die Volkssagen blos 
dünn und sparsam gesät zu sein pflegen." Die Märchen sind theils durch ihre äußere 
Verbreitung, theils durch ihr inneres Wesen dazu bestimmt, den reinen Gedanken einer
	        
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