Full text: Lesebuch für höhere Bildungsanstalten (4)

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auf dick mehr Einfluß haben, als deine eigenen Vorsätze? Bindest du dich streng 
an das, was du zu leisten hast? Hältst du den Glockenschlag in Ehren, der 
dich an dein Geschäft ruft? Jetzt sollst du arbeiten und etwas Nützliches voll¬ 
bringen; aber jetzt entfällt dir die Lust und du wirst nachlässiger. Jetzt kommt 
dein Verführer und du brichst ab. Jetzt erscheint der Reiz eines Vergnügens 
und du lässest das nützlichste Werk liegen. Hast du dir jemals vorgenommen, deine 
Zeit vernünftig einzutheilen, daß in jeder Stunde des Tages das Nothwendigste 
geschehe? Machst du an jedem einen Ueberschlag, was zuerst, was nachher, was 
späterhin unv zuletzt gethan werden soll? Nimmst du am Abende Rücksprache 
mit dir, hältst du Abrechnung, ob und wie deine Vorsätze ausgeführt wurden? — 
Nein, das thust du nicht! Du machst wohl gar aus Tag Nacht und aus Nacht 
Tag! Du verschwendest deine köstlichen Lebensstunden. Als ob dich die Zeit 
nichts anginge, lässest du sie seitwärts vorbeigehen. Als ob du viel zu viel Zeit 
hättest, schenkst du sie weg. Du verschenkst sie an unnöthigen Schlaf, an behag¬ 
liches Nichtsthun, an leeres Spiel. Hieltest du auf Ordnung wie der Baum, 
wie reicher würdest du an Gottes Werken! Was Alles würdest du am Morgen 
schon vollendet haben, ehe andere noch anfangen? Wie viel Herrliches würdest 
du noch beginnen, wenn andere ihr kurzes Tagewerk schon beschlossen haben! 
Wie würdest du niemals sagen müssen: Ich habe einen Tag verloren! Ach, siehe 
den Baum an! lerne von ihm, dich an Zeit und Ordnung binden und jeder 
Stunde ihr Recht geben. 
Siehe, wie er innerlich ist, was er äußerlich scheint! Die Natur gab jedem 
Baume gleich seine äußerlichen Zeichen, woraus man seine innere Beschaffenheit 
erkennen kann. Der Kenner darf nur Stamm, Zweige, Blätter und Rinde be¬ 
trachten, um gleich zu wissen, ob cs ein wilder oder edler Baum ist, ob er zu den 
weichen oder harten Holzarten gehört, ob er dieser oder jener Gattung beizuzählen 
ist. Schöne Einrichtung, welche vor Täuschung und Betrug bewahrt! In der 
Baumwelt werden wir nie irre geführt; ach, daß wir es doch nicht in der Menschen¬ 
welt würden! Dort giebt es untrügliche äußere Zeichen; hier sind die Zeichen 
Trug und Falschheit! Hier äußert Jemand die freundschaftlichsten Gesinnungen, 
als wenn sein Herz von Liebe und Wohlwollen überflösse! Falsch! Inwendig 
ist er ein reißender Wolf. Hier freut sich Einer unter zärtlichem Händedrucke 
über unser Wohlbefinden. Falsch! Er ist die schadenfroheste Seele. Hier giebt 
Einer Ehrfurcht für das Heilige zu erkennen. Nichts weniger! Im Herzen 
verachtet er Gott und Religion. Hier scheint Jemand Kenntniß und Brauchbar¬ 
keit zu verrathen und weiß den Schein von Wissen sich zu geben. Nichts als Schein! 
Er ist ein unwissender und unbrauchbarer Mensch. O die Schande, tief unter der 
Pflanzenwelt zu stehen! Da zeigt sich Alles offen und redlich, und wir zeigen 
Verstellung. Da weiß man bei jeder Gattung gleich, woran man ist; aber ach! 
kein Auge erkennt die Menschengattungen. Der wilde Baum will für keinen ver¬ 
edelten gelten; aber der ungebildete Mensch will wohl noch vor dem gebildeten 
glänzen. Der kleine Dornstrauch beugt sich nieder vor der gen Himmel strebenden 
Eiche; aber der geisteskleine Mensch will groß am Geiste erscheinen. Der mit 
Brandflecken und mit zusammengesckrumpften Blättern versehene Baum zeigt seinen 
Schaden offen; aber der Mensch will sogar aus seinen Fehlern Tugenden machen. 
Hat der Baum düstere Aeste, er verheimlicht sie nicht; aber des Menschen Un- 
thätigkeit soll Fleiß, seine Pflichtverletzung soll Pflichterfüllung sein. 
Nicht genug! Der Baum steht auch mit allen anderen Wesen in Frieden. 
Holde, schöne Eintracht ist es, die unter den Baumgewächsen zu flnden ist. Jeder 
steht ruhig und still an seinem angewiesenen Platze. Keiner zankt mit den Nach¬
	        
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