62. Aegypten.
Unser dem Wendekreise des Krebses an der nordöstlichsten Ecke von Afrika
stürzt der Nil, der bedeutendste Strom Afrikas und einer der ersten der ganzen
Erde, über mächtige Felsenmassen brausend herab in ein tieferes Thal, welches,
mehrfach gekrümmt und meistens nur 2 bis 3 Meilen breit, weithin nach Norden
zieht, bis allmählich die nackten Seitengebäude aus einander rücken und das Thal
zuletzt in eine weite Fläche übergeht, durch die der Nil, jetzt in mehrere Arme ge¬
ldeilt, dem Mittelmeere zufließt. 50 Meilen sind die äußersten Mündungen von¬
einander entfernt; vom Meere bis zu den Katarakten zählt man 20 Tagereisen,
und das ganze ägyptische Nilgebiet hält nicht 800 Quadratmeilen. Viel größer
ist das dünne, zu beiden Seiten hinlaufende Berg- und Steppenland, welches
rechts am Meerbusen Arabiens endet und links in den Sand der libyschen Wüste
sich verliert. Gleich Eilanden grünen in dieser einzelne Strecken, Oasen genannt,
worunter eine, östlich vom Basaltgebirge Harutsch, einstens die geheimnißvolle
Majestät Jupiter Hammons beherbergte. Gleich der fürchterlichen Sahara, mit
der es fast unter einerlei Breite liegt, wäre Aegypten eine traurige Wüste ge¬
blieben, von Gazellen und Straußen dünn bevölkert, hätte nicht der Nil mit wahr-
haft schöpferischer Kraft eine reiche Lebensfülle über das Land ergossen und dem¬
selben — nach Volney's ausdrucksvollem Worte — sein eigentliches „physisches
und politisches Dasein geschenkt." Denn nicht nur ist ein Theil des Delta (also
heißt Nieder-Aegypten zwischen den Nilarmen, von seiner Gestalt) aus dem Ge¬
schiebe des Stromes entstanden, das, vor seinen Mündungen sich anhäufend, end¬
lich den Meerfluthen entstieg; —- über das ganze Land hat er auf dem mir röth-
licken Sande bedeckten Kalke, welcher die Grundlage des ägyptischen Bodens bildet,
eine sich allmählich erhöhende Schicht fruchtbarer Dammerde angesetzt, der eine
fast strotzende Vegetation entkeimt. Fast alle Flüsse der heißen Zone treten, wenn
die periodischen Regen herabströmen, aus ihren Usern; aber mächtiger, als die
meisten und unter mancherlei begünstigenden Umständen ergießt sich der Nil all¬
jährlich über das ägyptische Land. Alsdann erscheint dasselbe wie ein weites Meer,
aus welchem Städte und Dörfer als Inseln emporragen. Wenn aber die Wasser
zurück in ihre Ufer kehren, so blüht aus dem düngenden Schlamme das üppigste
Pflanzenleben auf, und Aegypten ist einem unermeßlicken, herrlichen Garten gleich.
Neben mancher eigenthümlichen, kostbaren Pflanze wuchern hier alle feineren Ge¬
treidearten, mehrere Südfrüchte und die köstlichsten Gartengewächse; ein Acker
giebt jährlich mehrere Ernten, und fast mögen wir Herodot glauben, daß Aegypten
(späterhin die Kornkammer Roms und Konstantinopels) einstens 20,000 Ortschaften
zählte. Aus diesen Gefilden des Segens stammt gleichwohl die Pest; sei es, daß
der faulende Nil'chlamm giftige Dünste erzeugte, oder der furchtbare sirbonsiche
See sie aushauchte; genug, schon oftmals ist von Aegypten die Pest, verheerend
für Morgenland und Abendland, ausgegangen. Karg v. Botteck.
63. Der Nil.
Kern Strom der Erde eignet sich zu einer Betrachtung über die Wirkungen
des Wassers auf die Bildung der Erdoberfläche besser, als der Nil mit seinen
periodischen Ueberschwemmungen; denn er zeigt alle Veränderungen, welche ein
Fluß hervorbringen kann, schon deshalb am vollständigsten, weil kein anderer
durch einen so langen Zeitraum in seiner Thätigkeit sich verfolgen läßt. Ueber
4000 Jahre reichen bekanntlich viele Denkmäler hinaus, welche sich noch jetzt in