Full text: Lesebuch für höhere Bildungsanstalten (4)

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zelnen Föhrenforsten, Birken und Erlen ab und verlieren sich, je weiter man gegen 
Norden oder auf die Höhen tritt. Nur zerstreutes Gestrüpp, kraftlose Birken 
bleiben übrig, die immer niedriger werden, bis zuletzt einige kriechende Alpen- 
weiden und Zwergbirken der letzte Holzwuchs sind. Die Gebirge der unfrucht¬ 
baren Kjölen oder Nordfelsen erheben sich ohne Anmuth, schroff und schauerlich 
mit ihren finsteren Granitzacken und Fiüllarn (Gletschern) in den Himmel, 
650—1300 Meter hoch über dem Spiegel des Meeres. Am Fuße dieser Gebirge, 
an den Usern der Seen und wilden Elfen (Felsenbäche) und längs der Fjorde 
(Buchten) am Meere, wohnen die Lappen und Finnlappen. Die ungeheure, 
vielgezackte Bergkette der hohen Kjölen scheidet die norwegischen Lappenmarken von 
den übrigen. Das Volk ist arm, roh und zerstreutlebend, ohne Ackerbau, ohne 
Viehzucht. Die Einen wohnen in festen, aus Rasen erbauten Hütten, wo sie der 
Fischfang zu bleibenden Stätten einladet; die anderen führen nomadisches Leben 
unter runden Gezeiten, bald auf den Höhen, bald in den Thälern, wo sie für ihre 
Renthierheerden Nahrung oder gegen die Strenge des Winterfrostes Holz finden. 
Es fehlt nicht an mancherlei Wild, das ihnen Fleisch und Pelzwerk liefert. Das 
Renthier giebt kräftige Milch und Käse, dabei hilft es beim Fortschaffen der 
menschlichen Habseligkeiten auf Reisen. Gemahlene Föhrenrinde mischt der Lappe 
unter das Brod; das nahrhafte Jsländermoos, welches alle Felsen bedeckt, dient, 
wie dem Renthiere, auch dem Menschen zur Speise. Den Mangel des Obstes 
ersetzt die ungemein schmackhafte, saftige, nordische Brombeere, die auch in den 
kältesten Gegenden grünt. Flüchtig, aber heiß und das Pstanzenthum schnell 
belebend ist der Sommer; die langen Winternächte werden vom Schneeglanze, 
Mondenscheine und Nordlichte fast zur Tagesheiterkeit. Gewöhnlich hat eine Haus¬ 
haltung, aus zehn, zwanzig und dreißig Personen bestehend, zum sommerlichen 
Nomadenzuge einen eigenthümlichen Bezirk des Landes, den kein Nachbar verletzt; 
und immer kömmt die wandernde Familie einmal im Jahre auf denselben Platz 
zurück. 
Die Menschen, so karg auch die Natur des Landes gegen sie zu sein scheint, 
sind glücklich; denn sie sind frei, genügsam, und haben ihre Nahrung. Sie zahlen 
beinahe keine Abgaben und stellen ihre junge Mannschaft nicht in den Kriegsdienst. 
Sie sind von gesundem, kräftigen Gliederbaue, selten über fünf Schuh groß, ziem¬ 
lich gewandt, gute Pfeilschützen und erreichen gewöhnlich bei ihrer einfachen Lebens¬ 
art ein hohes Alter. Ohne Tücke, gutmüthig, gastfreuntlich, sind sie beim An¬ 
blicke eines Fremden wohl etwas scheu und argwöhnisch, nie aber, sobald sie ihm 
vertrauter werden, ungefällig. Wie alle Bergvölker und Nomaden halten sie fest 
an ihren uralten Sitten und Meinungen. K. Zschokke. 
$5. Der Wasserfall. 
Es war vor drei bis vier Jahren (so begann Rossing, einer der vier Freunde, 
welche den Wasserfall besuchten), als wir diese Gegend verlassen sollten, um nach 
Kopenhagen zu reisen. Jngier hatte schon eine Reise nach Christiania über das 
Gebirge nach Nummedalen gemacht und schloß sich wn. Man muß unsere Gebirge 
als den schroffen Abfall eines mächtigen Hochlandes betrachten. Je tiefer man 
in das Land hineindringt, desto enger treten die wilden Gebirgsmassen zusammen; 
sie bilden zwischen sich Schluchten, die in ungeheure Tiefe reichen, enge Spalten, 
die sich in seltsamen Biegungen durch die zerrissenen Gebirgsmassen ziehen. Je 
mehr man sich dem Meere nähert, desto mehr erweitern sie sich, nehmen zuletzt 
das Meer auf und leiten es in die tief einschneidenden Meerbusen dem hohen
	        
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