Full text: Lesebuch für höhere Bildungsanstalten (4)

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Fährt jener fort, „genug mein wackrer junger Mann, 
Die Liebe, womit ich mich zu euch gezogen fühle, 
Ist, traun! kein Wahn; und gönnet ihr den Lohn, 
Daß Scherasmin bei eurem Namen euch nenne?" — 
„Mein Nam' ist Hüon, Erb' und Sohn 
Des braven Siegewin, einst Herzog von Guyenne." 
„O," ruft der Alte, der ihm zu Füßen fällt, 
„So log mein Herz mir nicht! O tausendmal willkommen 
In diesem einsamen unwirthbaren Theil der Welt; 
Willkommen, Sohn des ritterlichen, frommen, 
Preiswerthen Herrn, mit dem in meiner bessern Zeit 
Ich manches Abenteuer in Schimpf und Ernst bestanden! 
Ihr hüpftet noch im ersten Flügelkleid, 
Als wir zum heil'geu Grab zu fahren uns verbanden. 
Wer hätte dazumal gedacht, 
Wir würden uns in diesen Felsenschlünden 
Auf Libanon nach achtzehn Jahren finden? 
Verzweifle Keiner je, dem in der trübsten Nacht 
Der Hoffnung letzte Sterne schwinden! 
Doch, Herr, verzeiht, daß mich die Freude plaudern macht. 
Laßt mich vielmehr vor allen Dingen fragen: 
Was für ein Sturmwind euch in dieses Land verschlagen?" 
Wieland. 
3. LaUade und Uomarye. 
Die Ballade, ursprünglich ein mit Mimik vorgetragenes Lied, ist jetzt der Form 
nach lyrisches Gedicht mit epischem Stoffe, der entweder der Volkssage entlehnt 
oder in ihrem Geiste gedichtet ist. Damit das Außerordentliche und Wunderbare der Bege¬ 
benheit au sich die Phantasie und das Gemüth lebendig ergreife, läßt der Dichter die Hand¬ 
lung in rasch fortschreitender Bewegung an uns vorüher gehen, ja er führt uns sogleich 
in die Mitte derselben und stellt sie in lebendiger Anschaulichkeit einfach und kurz in we¬ 
nigen bezeichnenden Zügen dar. Schilderungen von Personen und Sachen, wie im Epos, 
finden sich hier nur insofern, als die Begebenheit auf Phantasie und Gemüch einwirken 
soll. Dies geschieht besonders dadurch, daß der Dichter die Begebenheit als geheimnißvoll 
erscheinen und Manches nur ahnen läßt. Ist auch der Inhalt der Ballade zugleich lyrisch, 
so ist doch die Darstellung ganz episch. Nicht die Gefühle des Dichters, sondern die der 
handelnden Personen werden dargestellt, und auch diese nur, soweit sie in Wort und That 
sich kundgeben. Sobald die Begebenheit an sich ergreifend ist, bedarf sie nur einer 
einfachen Erzählung, um aus unser Gefühl tiefen Eindruck zu machen. — Als erzählendes 
Gedicht hat mit der Ballade die Romanze die größte Aehnlichkeit, auch ist diese mehr 
lyrisch als episch, und wird auch mehr für komische und scherzhafte, oder den Geist einer 
heitern Liebe athmende Dichtungen gebraucht, wogegen die Ballade ernste und tragische 
Stoffe behandelt. Die Heimath der Ballade in diesem Sinne ist der Norden, die der Ro¬ 
manze der Süden. Die richtige Behandlung der Ballade ist von Bürger ausgegangen. 
Gegenwärtig sind Ballade und Romanze die Glanzpunkte der deutschen Dichtung. Schiller, 
Goethe, Ühland u. A. haben in beiden Vorzügliches geleistet. 
1. Der wilde Zager. 
Der Wild- und Rheingraf stieß ins Horn: Laut rasselnd stürzt ihm nach der Troß; 
„Halloh, halloh, zu Fuß und Roß!" Laut Kifft und klafft es, frei vom Koppel, 
Sein Hengst erhob sich wiehernd vorn; DurchKornundDorn, durchHeid'undStopPel.
	        
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