6. Salomon Gegner ^1730—1788). 
Geßners sämtl. Schriften. 3 Bde., Karlsruhe 1787. Auswahl von Ad. Frey 
^Kürschner 41, Ist 
Jus den Idyllen. 
Mirlil. 
Bei stillem Abend hatte Mirtil noch den mondbeglänzten Sumpf besucht; 
die stille Gegend im Mondschein und das Lied der Nachtigall hatten ihn in 
stillem Entzücken aufgehalten. Aber itzt kam er zurück in die grüne Laube 
von Reben vor seiner einsamen Hütte und fände seinen alten Vater sanft 
schlumnlernd am Mondschein hingesunken, sein graues Haupt auf den einen 
Arm hingelehnt. Da stellt' er sich, die Arme ineinanber geschlungen, vor ihm 
hin. Lang stand er da, sein Blick ruhete unverwandt auf deni Greisen; 
nur blickt' er zuweilen auf durch das glänzende Reblalib zuni Himmel, und 
Freudentränen flössen dem Sohn vom Auge. 
„O bu!" so sprach er itzt, „du, den ich nächst den Göttern am meisten 
ehre! Vater! Wie sanft schlummerst du da! Wie lächelnd ist der Schlaf 
des Frommen! Gewiß ging dein zitternder Fuß aus der Hütte hervor, in 
stillem Gebete den Abend zu feiern, unb betend schliefest du ein. Du hast 
auch für mich gebetet, Vater! Ach wie glücklich bin ich! Die Götter hören 
dein Gebet; oder warum ruhet unsere Hütte so sicher in den von Früchten 
gebogenen Ästen, warum ist der Segen auf unserer Herde und auf den Früchten 
unsers Feldes? Oft, wenn du bei meiner schwachen Sorge für die Ruhe 
deines matten Alters Freudentränen weinest; lvenn du dann gen Himmel 
blickest und freudig mich segnest, ach, was empfind' ich dann, Vater! Ach, 
dann schwellt mir die Brust, und häufige Tränen quillen vom Auge! Da 
du heut an meinem Arm aus der Hütte gingst, an der wärmenden Sonne 
dich zu erquicken, und die frohe Herde um dich her sahest und die Bäume 
voll Früchte und die fruchtbare Gegend umher, da sprachst du: Meine Haare 
sind unter Freuden grau worden; seid immer gesegnet, Gefilde! Sticht lange 
mehr wird mein dunkelnder Blick euch durchirren, bald werd' ich euch an 
seligere Gefilde vertauschen. Ach Vater! Bester Freund! Bald soll ich dich 
verlieren; trauriger Gedanke! Ach! dann — dann will ich einen Altar neben 
dein Grab hinpflanzen; und dann, sooft ein seliger Tag kommt, wo ich 
Notleidenden Gutes tun kann, dann will ich, Vater, Milch und Blumen auf 
dein Grabmal streuen." 
Itzt schwieg er und sah mit tränendem Aug' auf den Greisen. „Wie 
er lächelnd da liegt und schlummert!" sprach er itzt schluchzend. „Es sind 
von seinen frommen Taten im Traum vor seine Stirne gestiegen. Wie der 
Mondschein sein kahles Haupt bescheint und den glänzend weißen Bart! 
O daß die kühlen Abendwinde dir nicht schaden und der feuchte Tau!" Itzt 
küßt er ihm die Stirne, sanft ihn zu wecken, und führt ihn in die Hütte, 
um sanfter auf weichen Fellen zu schlummern. 
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