Full text: Auswahl deutscher Dichtungen von dem Nibelungenliede bis zur Gegenwart (Abtheilung 1)

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Ishann Adolf Schlegel. 
(1721 1793.) 
Ein Morgengesang. 
Des Morgens erste Stunde 
Soll dir, Gott, heilig sein. 
Das Herz stimmt mit dem Munde 
Zu Lobgesängen ein. 
Ob ich dein Lob hier schon 
Mit schwachen Lippen lalle: 
So weiß ich, es gefalle 
Dir doch durch deinen Sohn. 
Es hat mich deine Gnade 
In dieser Nacht bedeckt, 
Daß mich kein Schmerz noch Schade 
Verletzt, ja nur geschreckt. 
Der Schlaf hat mich erquickt, 
Daß nun mit frischen Kräften 
Zu des Berufs Geschäften 
Mein Geist sich freudig schickt. 
Beschirme mich auch heute, 
Wenn Satan Netze legt; 
Hilf, daß ich männlich streite, 
Wenn sich die Sünde regt; 
Daß ich den ganzen Tag 
Den Pfad der Tugend wandeln, 
Mit andern glimpflich handeln, 
Mir nichts verzeihen mag. 
Hilf, daß ich dein stets denke, 
Fest sonder Eigensinn, 
sKlug ohne schlaue Ränke, 
Fromm, doch nicht mürrisch bin; 
Kein Drohn den Muth bestürzt; 
Kein Zorn die Liebe hindert, 
Den Ernst noch Sanftmuth lindert; 
Den Scherz noch Weisheit würzt. 
Was dein Gebot verletzet, 
Laß nie mit Lust mich schaun. 
Wenn es die Welt ergetzet, 
Erweck' es mir doch Graun. 
Schnell wirkt des Lasters Gift. 
Nichts, nichts sei mir verhaßter; 
Doch daß mein Haß das Laster, 
Nicht meinen Mitknecht trifft. 
Des Nächsten Ehre schmälern 
Entehrt mein Christenthum. 
Ein Ruhm aus fremden Fehlern, 
Wie ein so schnöder Ruhm! 
Laß den mich immer fliehn; 
Nie schlimm, was gut ist, deuten, 
Und seh' ich andre gleiten, 
Es jedem Aug entziehn. 
Bei Fleiß und Arbeit schleiche 
Kein Geiz sich in mein Herz; 
Und fremde Noth erweiche 
Mich leicht zu edelm Schmerz. 
Kein Glück, das andern blüht, 
Empöre mich zum Neide, 
Und kein Genuß der Freude 
Vergälle mein Gemüth. 
Hilf, daß an diesem Tage 
Sich mir kein Unsall naht, 
Und trifft mich eine Plage 
Nach deinem weisen Rath: 
So hilf, daß ich alsdaun 
Mein Leiden nicht verschulde, 
Nicht murre, christlich dulde, 
Froh dir vertrauen kann. 
Wie bald ist überwunden 
Das Leiden dieser Zeit! 
Auf wenig bange Stunden 
Folgt Glück der Ewigkeit. 
Dies stärkt in jeder Noth; 
Läßt nie mich ängstlich beben, 
Gibt frohern Muth im Leben 
Und leichtern Sieg im Tod.
	        
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