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I. Zur allgemeinen Kultur.
gründung: nimmer hätten sie das gewagt, wenn sie nicht Weltbürger
gewesett wären, und für die bestehenden Staaten haben sie nur zer¬
störend gewirkt. Wer könnte es dem politischen Historiker verdenken,
wenn er die Vaterlandslosigkeit dieser Ionier brandmarkt? Im
Gegenteil, das Verständnis der hellenischen Geschichte hängt daran,
daß die Berechtigung des lebendigen Staates und des positiven
Rechtes, die Berechtigung der athenischen Demokratie anerkannt wird,
trotzdem daß ihr Reich nur von kurzer Dauer gewesen ist und selbst,
wenn es Bestand gehabt hätte, für den hellenischen Gedanken ein zu
enges Gefäß gewesen wäre. Hat sich doch der größte Athener von
der Demokratie und seinem Vaterlande abwenden müssen, damit er
als Urgrund der Natur und des Lebens eine sittliche Macht und
als Heil der Menschenseele die sehnsüchtig dem Ewigguten zustrebende
Liebe schaute und offenbarte.
Eben um dieser Gegensätze willen ist die Zeit von Thales bis
Platon, von Solon bis Perikles allzureich, als daß sich ihr selbst
die Renaissance gleichsetzen ließe, in der Welt und Mensch von
neuem entdeckt wurden. Gleichwohl bat namentlich die Kunstgeschichte
diese Parallele mit Recht gezogen. Dieselbe hat auch zuerst die
Wandelungen des Stiles, die wir konventionell mit dem Namen
Barock, Rokoko, Klassizismus bezeichnen, in den Jahrhunderten des
Hellenismus wiedergefunden; die Geschichte der Sitten wird das
höfische linb das städtische Leben derselben Zeit am deutlichsten durch
die Analogie von Versailles und Venedig, Dresden und Holland
erläutern; die Geschichte der Philosophie sieht Stoa, Epikur und
Skepsis in Holland, Frankreich und England wieder mächtig werden,
und dem politischen Historiker drängt sich die Ähnlichkeit in dem
Antagonismus und der Gleichgewichtspolitik vieler nebeneinander¬
stehender Staaten hier und dort oft ganz frappant auf.
Im zweiten Jahrhundert vor Christus beginnt der Flutstrom
des hellenischen Lebens zu ebben. Die Wissenschaft kommt mählich
zum Stillstände, die von der Natur zuerst, dann die von: Menschen.
Das Leben hat keine Ideale und verlernt fast sie zu suchen. Der
geistige Elan der Volksseele erlahmt, weil der sittliche Elan ge¬
schwunden ist. So verfällt die Welt der Herrschaft der Römer, als
verdienter Preis für die Kraft des nationalen Willens, durch die
sie Italien wider Hannibal behauptet und so den Westen für die
hellenische Kultur gerettet haben. Willig geben sie sich der Macht
des hellenischen Geistes hin, wenn auch außer stände an den Werken
dieses Geistes tätig Hand anzulegen. Allein unmittelbar auf die
Vollendung ihrer Weltherrschaft folgt die hundertjährige Revolution,
der Anfang des Endes. Dem gegenüber hatte schon die Weite der