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Muff: Die Tragik des Sophokles.
gangs. Oidipus sticht sich die Augen aus, vernichtet damit sein Ich und
ist für die Zukunft schlimmer daran, als wenn er tot wäre.
Es kommt etwas hinzu, was dieses Leid noch steigert. Das Verhängnis,
das ist die klare Einsicht in das Unheil, bricht nicht plötzlich herein, sondern
wir haben es geahnt und vorausgesehen, haben mit Schauder wahrgenommen,
wie es unaufhaltsam, unwiderstehlich, alles vor sich niederwerfend herein¬
bricht und das arme Opfer mit ehernen Krallen packt.
Wer sollte beim Anblick dieses Umschwunges, dieses Sturzes eines
edlen Mannes aus Glück in Unglück nicht tief bewegt werden; wer sollte
hier nicht an das Schicksal und an die Gottheit die Frage richten: Ist das
noch recht und gut und nicht vielmehr erbarmungslos und grausam? Hier
sind es wirklich Angstgefühle bangster Art, die den Kern des tragischen
Eindruckes bilden; hier spüren wir, uni mit Volkelt zu reden, etwas von
Weltdunkel und Welttiefe; hier haben wir das Tragische der niederdrücken¬
den Art.
Das Stück ist eine Schicksalstragödie, jawohl; nicht die Entschließungen
der Menschenbrust bestimmen die Handlungen und ihre Folgen, sondern
der ein für allemal festgelegte und vorhergesagte Wille des Schicksals.
Aber — und nun kommen Punkte, die man nicht übersehen darf, wenn
man dem Stück und dem Dichter nicht unrecht tun will — dieses Schicksal
bei Sophokles, das auch den Unschuldigen- ins Verderben reißt, hat doch
noch einen religiös-sittlichen Untergrund. Einmal ist es der Geschlechtsfluch,
der die Nachkommen ins Verderben reißt, weil die Vorfahren gefrevelt
haben. Sodann wird am Ende des Stückes und durch den Verlauf der
Handlung das Unrecht beseitigt, so daß für einen besseren Wandel und
für ein glücklicheres Geschick der Boden geebnet ist. Es stellt sich heraus,
daß dem einzelnen zwar hart begegnet, daß aber für die Gesamtheit, für
Sitte und Recht gesorgt wird; daß der Mensch allerdings in voller Ohn¬
macht erscheint, die Gottheit aber in Erhabenheit und Machtfülle vor uns
hintritt. Oidipus hatte, wenn auch unwissentlich, die sittliche Weltordnung
verletzt. Durch seine Klagen und durch die Blendung, die er an sich voll¬
zieht, büßt er für die Frevel; und wie er sich unter die gewaltige Hand der
Götter beugt, so tun wir es. Es bricht sich die heilsame Überzeugung
Bahn, daß der Mensch den Göttern gegenüber ohnmächtig ist und gut
daran tut, diese Ohnmacht zu erkennen; daß gerade der, der groß und herr¬
lich dasteht, am ehesten zu Falle kommt; daß schließlich doch wohlgetan ist,
was die Götter tun, und daß ihre Führungen, wenn sie auch nicht der Härte
entbehren, doch mit Ergebenheit hinzunehmen sind. Der geblendete, blutüber¬
strömte Oidipus ist ein furchtbarer Anblick, gewiß; aber er bricht in Tränen
aus; er erhebt weiche, rührende Klagen; er sorgt zärtlich für seine Töchter;