Full text: Gedichte und Prosa (Teil 4, [Abteilung 1 und 2])

Goethe. 
im sr 
Schmiegen sich um ihn heran; 
Ja, die sanften frommen Lieder 
Habens ihnen angethan!“ 
Indessen hatte sich der Löwe ganz knapp an das Kind 
hingelegt und ihm die schwere rechte Vordertatze auf den Schoß 
gehoben, die der Knabe, fortsingend, anmutig streichelte, aber 
gar bald bemerkte, daß ein scharfer Dornzweig zwischen die 
Ballen eingestochen war. Sorgfältig zog er die verletzende 
Spitze hervor, nahm lächelnd sein buntseidenes Halstuch vom 
Nacken und verband die greuliche Tatze des Untiers, so daß 
die Mutter sich vor Freuden mit ausgestreckten Armen zurück⸗ 
zog und vielleicht angewohnter Weise Beifall gerufen und ge— 
klatscht hätte, wäre sie nicht durch einen derben Faustgriff des 
Wärtels erinnert worden, daß die Gefahr nicht vorüber sei. 
Glorreich sang das Kind weiter, nachdem es mit wenigen 
Tönen vorgespielt hatte: 
„Denn der Ewge herrscht auf Erden, 
über Meere herrscht sein Blick: 
Löwen sollen Lämmer werden, 
Und die Welle schwankt zurück; 
Blankes Schwert erstarrt im Hiebe; 
Glaub und Hoffnung sind erfüllt; 
Wunderthätig ist die Liebe, 
Die sich im Gebet enthüllt.“ 
Ist es möglich zu denken, daß man in den Zügen eines 
so grimmigen Geschöpfes, des Tyrannen der Wälder, des 
Despoten des Tierreiches, einen Ausdruck von Freundlichkeit, 
von dankbarer Zufriedenheit habe spüren können, so geschah es 
hier: und wirklich sah das Kind in seiner Verklärung aus wie 
ein mächtiger, siegreicher Überwinder, jener zwar nicht wie der 
Überwundene — denn seine Kraft blieb in ihm verborgen — 
aber doch wie der Gezähmte, wie der dem eigenen friedlichen 
Willen Anheimgegebene. Das Kind flötete und sang so weiter, 
nach seiner Art die Zeilen verschränkend und neue hinzufügend: 
„Und so geht mit guten Kindern So beschwören, fest zu bannen 
Selger Engel gern zu Rat, Lieben Sohn ans zarte Knie, 
Böses Wollen zu verhindern, Ihn, des Waldes Hochtyrannen, 
Zu besördern schöne That. Frommer Sinn und Melodie.“
	        
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