Full text: Deutsche Dichtung in der Neuzeit (Abt. 2)

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Was durch unsre Seeleu geht! 
Wind und Wasser sollen's tragen, 
Daß es durch den Frühling weht: 
Frisches, fröhliches Behagen, 
Lust am Nachten und am Tagen, 
Leben, das in Blüten steht. 
Friedrich Nietzsche. 
Friedrich Nietzsche, geboren am 15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen 
als Sohn eines evangelischen Pfarrers, 1869 — 1879 Professor der klassischen 
Philologie in Basel, seit 1889 geisteskrank, starb am 25. August 1900 in Weimar. 
Werke: Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik 1872; Unzeitgemäße 
Betrachtungen 1873- 1876; Menschliches, Allzumenschliches I 1878, II 1879; Die fröh¬ 
liche Wissenschaft I—IV 1882, V 1887; Also sprach Zarathustra 1882—1885; Jenseits 
von Gut und Böse 1885; Gedichte (im VIII. Bande der Werke) 1899. 
1. Am Gletscher. 
(Rosenlaui, Sommer 1877.) 
Werke, Leipzig (Naumann), 1899, VIII, S. 336. 
Um Mittag, wenn zuerst 
Der Sommer ins Gebirge steigt, 
Der Knabe mit den müden, heißen 
Augen: 
Da spricht er auch, 
b Doch sehen wir sein Sprechen nur. 
Sein Atem quillt, wie eines Kranken 
Atem quillt 
In Fiebernacht. 
Es geben Eisgebirg' undTann' und Quell 
Ihm Antwort auch, 
10 Doch sehen wir die Antwort nur. 
Denn schneller springt vom Fels herab 
Der Sturzbach wie zum Gruß 
Und steht, als weiße Säule zitternd, 
Sehnsüchtig da. 
15 Und dunkler noch und treuer blickt die 
Tanne, 
Als sonst sie blickt, 
Und zwischen Eisund totem Graugestein 
Bricht plötzlich Leuchten aus — — 
Solch Leuchten sah ich schon: das deutet 
mir's. — 
20 Auch toten Mannes Auge 
Wird wohl noch ein Mal licht, 
Wenn harmvoll ihn sein Kind ^ 
Umschlingt und hält und küßt: " 
Noch ein Mal quillt da wohl zurück 
25 Des Lichtes Flamme, glühend spricht 
Das tote Auge: „Kind! 
Ach Kind, du weißt, ich liebe dich!" — 
Und glühend redet alles — Eisgebirg' 
Und Bach und Tann' — 
Mit Blicken hier dasselbe Wort: 30 
„Wir lieben dich! 
Ach Kind, du weißt, wir lieben, lieben 
dich!" 
Und er, 
Der Knabe mit den müden, heißen 
Augen, 
Er küßt sie harmvoll, 35 
Jnbrünst'ger stets, 
Und will nicht gehn; 
Er bläst sein Wort wie Schleier nur 
Von seinem Mund, 
Sein schlimmes Wort: 40 
„Mein Gruß ist Abschied, 
Mein Kommen Gehen, 
Ich sterbe jung." 
Da horcht es rings 
Und atmet kaum: 45 
Kein Vogel singt. 
Da überläuft 
Es schaudernd, wie 
Ein Glitzern, das Gebirg'. 
Da denkt es rings — 50 
Und schweigt — — 
Um Mittag war's, 
Um Mittag, wenn zuerst 
Der Sommer ins Gebirge steigt, 
DerKnabemit den müden, heißen Augen. 55
	        
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