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Anhang II.
Poetik.
Die wahre Poetik wird nicht erdacht,
Sie hat sich stets von selber gemacht.
,, Aus echter Poeten Stoff und Wesen
Brauchst du sie nur fein beranszulescn.
1. Die Poetik ist die Lehre von dem
Wesen und den Formen der Dichtkunst.
Die Dichtkunst selbst ist die Darstellung des
Schönen durch die Sprache.
2. Dem Begriffe des Schönen verwandt
sind die Begriffe des Guten und des Wahren.
Das Wahre erkennen wir, das Gute wollen
wir, das Schöne fühlen wir; jedes, das
Wahre, das Gute, wie auch das Schöne,
kann für sich bestehen, kann sich aber auch
mit den anderen harmonisch verbinden;
vereint zeigen sie das Wesen des Menschen
in seiner höchsten Entwickelung.
3. Der Gegensatz des Schönen ist das
Häßliche. Auf den Stufen zwischen dem
Schönen und dem Häßlichen liegen: das Er¬
habene, das Furchtbare und das Grausige,
und als Gegensätze dieser drei Empfindungen:
das Niedere, das Gleichgültige und das
Reizende. Den Widerstreit dieser Empfin¬
dungen — d. h. den Umschlag des Schönen
in das Häßliche, des Erhabenen in das
Niedere usw. — nennen wir das Kontische.
Der Untergang des Erhabenen ist tragisch.
4. Dargestellt wird das Schöne durch
die Schöpfungskraft in der Natur und
durch die menschliche Tätigkeit in der Kunst.
Man unterscheidet redende und bildende
Künste. Die redenden Künste sino die Poesie
und die Musik, die bildenden die Baukunst,
die Bildhauerei und die Malerei. Die
bildenden Künste wirken im Raume und
durch Körper für die Anschauung, die Musik
wirkt in der Zeit durch Töne für die
Empfindung, die Poesie wirkt ebenfalls in
der Zeit durch die Sprache für die innere
Anschauung (Phantasie) und für die Emp¬
findung.
5. Bei jedem Kunstwerke sind der Inhalt
und die Form zu unterscheiden. Den Inhalt
eines Dichterwerkes bildet der Gegenstand,
der poetisch erfaßt, gestaltet und zur An¬
schauung gebracht werden soll. Die Form
eines Gedichtes aber wird bestimmt: 1. durch
den sprachlichen Ausdruck, 2. durch den
Rhythmus, 3. durch die Anlage und Anord¬
nung des Ganzen, wonach sich verschiedene
Dichtgattungen unterscheiden lassen.
A. Der sprachliche Ausöruck
in öer Poesie.
I. Wenn wir schon an den sprachlichen
Ausdruck in der Prosa ') die Anforderung
stellen, daß er richtig, klar und angemessen
sei, so gilt das in noch viel höherem Maße
von der Poesie. Dem sprachlichen Ausdrucke
in der Poesie bleibt aber noch eine weitere
und höhere Aufgabe; da die Poesie nämlich
auf die Phantasie und lebendige Anschauung
zu wirken hat, so muß der dichterische Aus¬
druck in Worten und Gedanken ein möglichst
anschauliches und belebtes Bild in uns
hervorrufen.
Der Dichter vermeidet daher unter ande¬
rem den Gebrauch abstrakter Substantive;
dagegen liebt er es, das Bild, welches das
einfache Substantiv in der Seele hervorruft,
durch ein Beiwort zu größerer Bestimmt¬
heit auszuprägen: unter den Verben gibt
der Dichter denjenigen, die eine Handlung
oder Bewegung bezeichnen, den Vorzug vor
solchen, die eine bloße Ruhe ausdrücken;
in der Benutzung der Partikeln ist er spar¬
sam. Er bezeichnet uns die Dinge nicht
sowohl an sich als nach ihrer Ursache und
Wirkung uno inihren vielfachen Beziehungen.
*) Die Prosa ist wesentlich ein Erzeugnis des Verstandes, die Poesie ein Erzeugnis
der Phantasie; das Ziel der Prosa ist Darstellung der Wahrheit, das Ziel der Poesie
ist Darstellung der Schönheit; die Prosa will auf den Verstand wirken, das Wissen
bereichern, die Poesie das Gemüt, den Willen anregen, das sittliche Wesen des Menschen
bestimmen. Die Form der Prosa ist die ungebundene, die Form der Poesie ist die
gebundene Rede. Dabei ist aber nicht ausgeschkoffen, daß es dichterische Erzeugnisse gibt,
die der gebundenen Form entbehren, wie denn auch die gebundene Form keineswegs
allein ein Gedicht zum Kunstwerk erhebt.
Buschmann, Leseb. f. d. ob. Kl. II. 10. Anfl.
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