Full text: Deutsche Dichtung in der Neuzeit (Abt. 2)

625 
Anhang II. 
Poetik. 
Die wahre Poetik wird nicht erdacht, 
Sie hat sich stets von selber gemacht. 
,, Aus echter Poeten Stoff und Wesen 
Brauchst du sie nur fein beranszulescn. 
1. Die Poetik ist die Lehre von dem 
Wesen und den Formen der Dichtkunst. 
Die Dichtkunst selbst ist die Darstellung des 
Schönen durch die Sprache. 
2. Dem Begriffe des Schönen verwandt 
sind die Begriffe des Guten und des Wahren. 
Das Wahre erkennen wir, das Gute wollen 
wir, das Schöne fühlen wir; jedes, das 
Wahre, das Gute, wie auch das Schöne, 
kann für sich bestehen, kann sich aber auch 
mit den anderen harmonisch verbinden; 
vereint zeigen sie das Wesen des Menschen 
in seiner höchsten Entwickelung. 
3. Der Gegensatz des Schönen ist das 
Häßliche. Auf den Stufen zwischen dem 
Schönen und dem Häßlichen liegen: das Er¬ 
habene, das Furchtbare und das Grausige, 
und als Gegensätze dieser drei Empfindungen: 
das Niedere, das Gleichgültige und das 
Reizende. Den Widerstreit dieser Empfin¬ 
dungen — d. h. den Umschlag des Schönen 
in das Häßliche, des Erhabenen in das 
Niedere usw. — nennen wir das Kontische. 
Der Untergang des Erhabenen ist tragisch. 
4. Dargestellt wird das Schöne durch 
die Schöpfungskraft in der Natur und 
durch die menschliche Tätigkeit in der Kunst. 
Man unterscheidet redende und bildende 
Künste. Die redenden Künste sino die Poesie 
und die Musik, die bildenden die Baukunst, 
die Bildhauerei und die Malerei. Die 
bildenden Künste wirken im Raume und 
durch Körper für die Anschauung, die Musik 
wirkt in der Zeit durch Töne für die 
Empfindung, die Poesie wirkt ebenfalls in 
der Zeit durch die Sprache für die innere 
Anschauung (Phantasie) und für die Emp¬ 
findung. 
5. Bei jedem Kunstwerke sind der Inhalt 
und die Form zu unterscheiden. Den Inhalt 
eines Dichterwerkes bildet der Gegenstand, 
der poetisch erfaßt, gestaltet und zur An¬ 
schauung gebracht werden soll. Die Form 
eines Gedichtes aber wird bestimmt: 1. durch 
den sprachlichen Ausdruck, 2. durch den 
Rhythmus, 3. durch die Anlage und Anord¬ 
nung des Ganzen, wonach sich verschiedene 
Dichtgattungen unterscheiden lassen. 
A. Der sprachliche Ausöruck 
in öer Poesie. 
I. Wenn wir schon an den sprachlichen 
Ausdruck in der Prosa ') die Anforderung 
stellen, daß er richtig, klar und angemessen 
sei, so gilt das in noch viel höherem Maße 
von der Poesie. Dem sprachlichen Ausdrucke 
in der Poesie bleibt aber noch eine weitere 
und höhere Aufgabe; da die Poesie nämlich 
auf die Phantasie und lebendige Anschauung 
zu wirken hat, so muß der dichterische Aus¬ 
druck in Worten und Gedanken ein möglichst 
anschauliches und belebtes Bild in uns 
hervorrufen. 
Der Dichter vermeidet daher unter ande¬ 
rem den Gebrauch abstrakter Substantive; 
dagegen liebt er es, das Bild, welches das 
einfache Substantiv in der Seele hervorruft, 
durch ein Beiwort zu größerer Bestimmt¬ 
heit auszuprägen: unter den Verben gibt 
der Dichter denjenigen, die eine Handlung 
oder Bewegung bezeichnen, den Vorzug vor 
solchen, die eine bloße Ruhe ausdrücken; 
in der Benutzung der Partikeln ist er spar¬ 
sam. Er bezeichnet uns die Dinge nicht 
sowohl an sich als nach ihrer Ursache und 
Wirkung uno inihren vielfachen Beziehungen. 
*) Die Prosa ist wesentlich ein Erzeugnis des Verstandes, die Poesie ein Erzeugnis 
der Phantasie; das Ziel der Prosa ist Darstellung der Wahrheit, das Ziel der Poesie 
ist Darstellung der Schönheit; die Prosa will auf den Verstand wirken, das Wissen 
bereichern, die Poesie das Gemüt, den Willen anregen, das sittliche Wesen des Menschen 
bestimmen. Die Form der Prosa ist die ungebundene, die Form der Poesie ist die 
gebundene Rede. Dabei ist aber nicht ausgeschkoffen, daß es dichterische Erzeugnisse gibt, 
die der gebundenen Form entbehren, wie denn auch die gebundene Form keineswegs 
allein ein Gedicht zum Kunstwerk erhebt. 
Buschmann, Leseb. f. d. ob. Kl. II. 10. Anfl. 
40
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.