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60. Der Räuber.
Von Prutz.
Gedichte. 3. Aufl. 1847, S. 60.
Auf dem öden Scheidewege,
Hinterm hohen Kruzifixe,
Stand der Käuber listig lauernd,
In der Hand den blanken Säbel
Und die Büchse, scharf geladen. 5
Denn den Kaufmann wollt' er fangen,
Der mit Geldes reicher Fülle,
Mit Gewändern, edlen Weinen
Von dem Markte heut’ zurückkehrt.
Schon hinunter sank die Sonne, 10
Und der Mond tritt durch die Wolken,
Und der Räuber steht erwartend
Hinterm hohen Kruzifixe.
Horch! da tönt’s wie Engelstimmen ;
Leise Seufzer, laute Bitten 15
Kommen, hell wie Abendglocken,
Durch die stille Luft getragen;
Süss mit ungewohnten Tönen
Stiehlt Gebet sich in sein Ohr,
Und er steht undlauschtbegierig. 20
„0 Du Schirmvogt der Verlass’nen!
O Du Hüter der Verlohnen!
Neig’, o neig' Dein himmlisch Antlitz,
Sonnenhelle, selig lächelnd,
Mieder auf uns arme Kleine! 25
Breit’, o breit’ die lieben Arme,
Die Du ausgespannt am Kreuze,
Wie zween Flüglein um den Vater,
Dass kein Sturm den Pfad zerwühle,
Dass sein gutesRoss nicht strauchle, 3 0
Nicht der Räuber, stumm und lauernd,
In der Waldschlucht ihn entdecke.
O Du Schirmvogt der Verlass’nen,
O Du Hüter der Verlohnen,
Führ’ uns heim den gutenVater!“— 35
Und der Räuber hört es alles
Hinterm hohen Kruzifixe.
Drauf der Kleinste, sich bekreuzend,
Fromm die zarten Hände faltend:
„Lieber Christe,“ lallt er kindisch, 40
„Ja, ich wreiss, Du bist allmächtig,
Sitzend auf des Himmels Thronen
Unter Sternen, glänzend goldnen,
Unter Englein, lieblich lust'gen,
Wie die Amme mir’s erzählt hat: 45
O. sei gnädig, lieber Christe!
Gieb den Räubern, den verwegnen,
Brot gieb ihnen, Brot in Fülle,
Dass sie nicht zu plündern brauchen,
Noch zu morden unsern Vater! 50
Wüsst' ich. wo ein Räuber wäre,
Wollt' ich ihm dies Kettlein geben,
Dieses Kreuz und diesen Gürtel,
Sprechend: Lieber, lieber Räuber!
Nimm hier Kettlein, Kreuz und
Gürtel, 55
Dass Du nicht zu plündern brauchest,
Noch zu morden unsern Vater!“
Und der Räuber hört es alles
Hinterm hohen Kruzifixe.
Und von ferne hört er’s nahen: 60
Rosse schnauben, Räder rollen,
Langsam greift er nach dem Säbel,
Langsam fasst er nach der Büchse,
Und so steht er lange sinnend
Hinterm hohen Kruzifixe. 65
Niederknieen noch die Kinder:
„0 Du Schirmvogt der Verlass’nen!
0 Du Hüter der Verlornen!
Führ’ uns heim den guten Vater!“
Und der Vater kommt gefahren, 70
Wohlbehalten, ungefährdet,
Schliesst die Kinder an den Busen,
Selig Stammeln, süsse Küsse —■
Und kein Räuber ward gesehen!
Nur den blanken Säbel fand man, 75
Fand die Büchse, scharf geladen,
Hinterm hohen Kruzifixe:
Beide waren ihm entsunken.