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wohl bei Vater Homer als in der Schillerschen Glocke in diesem von 
dem Dichter neugeschaffenen und seihen neuverliehenen und doch uralten 
Gewände. — 
Besonders sind es auffallende Naturerscheinungen, denen gegenüber 
sich die dichterische Gestaltungskraft der Urvölker geltend macht. Auch 
hier finden Übertragungen von dem Vorstellungskreis, der der geläufigere 
und festere ist, auf ein Neues, Ungewohntes, selten Vorkommendes statt. 
Werden die Vorgänge des eignen Lebens übertragen auf diese Natur¬ 
ereignisse, sieht man in diesen Erlebtes aus dem Familienleben wieder¬ 
kehren, so haben wir ein dichterisches Erzeugnis und in Frageform ein 
Rätsel vor uns. Jede Personifikation, die den Gegenstand oder Vorgang 
mit dem eigentlichen Namen nicht nennt, ist ja ein Rätsel. 
Diese gestaltende Kraft ist aber immer vorhanden, so verschieden 
sie sich nach dem vorhandenen geistigen Kapital gestalten mag. Auch 
jetzt noch wird irgend eine Wahrnehmung, irgend eine Thatsache, irgend 
ein Vorkommnis unter neue überraschende Beziehungen gebracht. Wird 
die Beziehung nach verschiedenen Richtungen hin witzig gewendet, die 
Wahrnehmung unter den Beziehungen halb versteckt, halb offenbart, so 
haben wir das ergötzende Spiel des Witzes, dem wir so gern lauschen, 
der von Mund zu Mund getragen und Veranlassung zu veredelter ge¬ 
selliger Unterhaltung wird. -— Das Rätsel ist die Würze des an und 
für sich weniger Geschmackvollen, die Anregung zum Nachdenken, die 
Bewegung der Gedankenmassen, die Belohnung für die Anstrengung, die 
Ermunterung nach der Ermüdung, das Salz des an und für sich Schalen 
und Gleichgültigen. 
77. Die Schillersclien Rätsel. 
Von Hoffmeister. 
Schillers Leben, Geistesentwicklung und Werke, 5. Teil. Stuttgart 1842. S. 34. 
Während der Gegenstand des gewöhnlichen Rätsels gleichgültig, ja 
oft unwürdig und verächtlich ist, muss er beim poetischen Rätsel immer 
allgemein bedeutend, beziehungsreich, gross .und allbekannt sein. Selbst 
die chinesische Mauer ist, wenn auch ein singulärer, doch ein imposanter 
Gegenstand. Sollen Kunstobjekte gewählt werden, so müssen sie sich 
wenigstens durch ihre Wichtigkeit auszeichnen; denn nur solche Gegen¬ 
stände sind einer poetischen Behandlung fähig. Auch hat Schiller bloss 
nach sichtbaren Dingen gegriffen, uud es liegt allen diesen Rätseln eine 
grossartige, tiefsinnige Weltanschauung zu Grunde. Ist nun bei den 
Verstandesrätseln die Einkleidung möglichst geheimnisvoll und das Ver¬ 
worrene und Verschrobene hier recht an seinem Ort, so wird beim poe¬ 
tischen Rätsel der Verstand zwar ebenfalls gereizt, aber dasselbe ist auch 
schon ohne seine Auflösung ein liebliches Bild, welches noch unenthüllt 
Ohr, Einbildung und Gefühl anmutig unterhält. Ja, das Phantasie-Rätsel 
macht einen um so reinem ästhetischen Eindruck, je mehr es auf die 
kleine Ehre einer unentwirrbaren Verwickelung verzichtet, je unbefangener 
es sein Geheimnis selbst zu verraten scheint. Denn sein Zweck liegt
	        
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