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werden, in diesem Gedichte erweitert: noch in keinem ist der Gedanke
selbst so poetisch gewesen und geblieben, in keinem hat das Gemüt so
sehr als eine Kraft gewirkt. Ich werde deswegen noch alle mir mög¬
liche Sorgfalt an die Vollendung desselben wenden und nicht nur Ihre
Anmerkungen darüber nutzen, sondern auch auf Veranlassung derselben
eine noch grössere Strenge dagegen ausüben, als Sie bewiesen haben.
An dem Ganzen ist nichts mehr zu ändern, es sei denn, dass einige
Teile fasslicher verbunden, einiges besser unterschieden würde. Ihr Ein¬
wurf gegen zu frühe Einführung der Landstrasse in dem Gemälde ist
nicht ungegründet; hier hat die Wirklichkeit der Idee vorgegriffen, die
Landstrasse war einmal in der Scene, die meiner Phantasie sich empirisch
eingedrückt hatte. Es wird mir Mühe kosten, die Landstrasse nachher
einzuführen, und doch muss ich die sinnlichen Gegenstände, an denen
der Gedanke fortläuft, so sehr als möglich zu Rate zu halten suchen.
Sie werden bemerkt haben, dass ich bis da, wo die Betrachtungen über
die Korruption angehen, beinahe immer von einem äussern Objekt aus¬
gehe. Bei der Korruption war es in der Natur der Sache, dass das Ge¬
müt in sich selbst versinkt und die Einbildungskraft die ganzen Kosten
des Gemäldes trägt. Ich gewann dadurch den grossen Vorteil, dass nach
einer so langen Zerstreuung, während der doch die Reise immer fortgeht,
die Natur auf einmal als Wildes dastehen kann. Vielleicht aber kann ich
noch mehr, als ich gethan, aus der sinnlichen Anschauung nehmen, so
dass alle Spur eines Plans verschwindet.
20. Über Malerei und Dichtkunst.
Von Lessing.
Laokoon. Hempelsche Ausg. 6. T., S. 98—104.
Wenn es wahr ist, dass die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz
andre Mittel oder Zeichen gebraucht, als die Poesie, jene nämlich
Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der
Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Be-
zeichneten haben müssen: so können nebeneinander geordnete Zeichen
auch nur Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander
existieren, aufeinanderfolgende Zeichen aber auch nur Gegenstände aus-
drücken, die aufeinander oder deren Teile aufeinander folgen.
Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander
existieren, heissen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren
Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei.
Gegenstände, die aufeinander oder deren Teile aufeinander folgen,
heissen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigent¬
liche Gegenstand der Poesie.
Doch alle Körper existieren nicht allein in dem Raume, sondern
auch in der Zeit. Sie dauern fort und können in jedem Augenblicke
ihrer Dauer anders erscheinen und in anderer Verbindung stehen. Jede
dieser augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen ist die Wirkung