Ernst Rietschel. 
203 
meisten Volksschullehrer zu kämpfen haben. Er trat einige Wochen in 
die Handlung eines kleinen Pulsnitzer Kaufmanns, es zeigte sich sehr 
bald, daß ihm alles geschäftliche Talent abging. Er sah sich, gestützt 
auf seine gute Handschrift, nach einer Schreiberstelle um; er fand keine. 
Da tauchte immer unabweislicher der Gedanke in ihm auf, dem Ruf 
seines Herzens zu folgen und Künstler zu werden. Dieser Entschluß, 
bei dem Mangel aller Aussicht auf Unterstützung doppelt waghalsig, 
fand endlich auch die Billigung des Vaters, nachdem ein Dresdener 
Architekt, Guido, welcher auf einen kurzen Verwandtenbesuch nach 
Pulsnitz gekommen war, auf Grund der vorgelegten Zeichnungen und 
Malereien seine lebhafteste Ermunterung ausgesprochen hatte. Professor 
Seifert, damals Inspektor der Dresdener Kunstakademie, gab seine Zu¬ 
stimmung. Der Würfel war gefallen. Michaelis 1820, also beinahe 
16 Jahre alt, trat Rietschel in die unterste Klasse der Dresdener Aka¬ 
demie ein. 
Wohl erzählt die Kunstgeschichte von gar mannigfachen Bildungs¬ 
mühen und Entbehrungen, durch welche sich oft strebende Künstler 
qualvoll hindurchwinden mußten, und welchen nur allzu viele ermattet 
unterlagen. Aber ein schwereres Los ist selten einem Künstler ge¬ 
worden, als unserem Rietschel. Und wenn wir heute darüber klagen 
und trauern, daß eine langjährige Brustkrankheit den Meister mitten 
in seinem freudigsten und gewaltigsten Schaffen dahinraffte, so wird 
diese Trauer vermehrt durch die Gewißheit, daß der Keim dieser Krank¬ 
heit auf die entsetzliche Not zurückzuführen ist, mit welcher Rietschel 
mitten in der anstrengenden Arbeit seines ersten rastlosen Strebens 
und in den Jahren seines schnell aufschießenden körperlichen Wachstums 
zu kämpfen hatte. 
Ich werde es nie vergessen, mit welcher tiefrührenden Bescheiden¬ 
heit mir Rietschel einmal von dem Druck dieser seiner ersten Künstler¬ 
jahre erzählte. Es war am Vorabend jenes großen Künstlerfestes, 
mit welchem die Dresdener Künstler im Mürz 1857 den geliebten 
Meister nach der Vollendung der großen Goethe- und Schillergruppe 
feierten. Solche Tage der Siegesfreude, die in kleinen Menschen die 
Eitelkeit reizen, stimmten Rietschel ernst, demutsvoll und dankbar. Oft 
hatte der Vater bei freudigen Ereignissen mit Thränen im Auge und 
mit gefalteten Händen die Bibelworte gebetet: „Was bin ich und 
mein Haus, daß du mein so gedenkest?" Dem Sohn war diese Ge¬ 
sinnung der Leitstern seines Lebens geblieben. Er pflegte sich in 
solchen Stunden mit dem entzückendsten Humor in die Erinnerung 
vergangener Leiden zu versenken. 
Sechs Thaler bildeten das Kapital, mit welchem der junge 
Künstler die Akademie bezog. Er wohnte in einem kleinen einstöckigen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.