Ernst Rietschel.
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meisten Volksschullehrer zu kämpfen haben. Er trat einige Wochen in
die Handlung eines kleinen Pulsnitzer Kaufmanns, es zeigte sich sehr
bald, daß ihm alles geschäftliche Talent abging. Er sah sich, gestützt
auf seine gute Handschrift, nach einer Schreiberstelle um; er fand keine.
Da tauchte immer unabweislicher der Gedanke in ihm auf, dem Ruf
seines Herzens zu folgen und Künstler zu werden. Dieser Entschluß,
bei dem Mangel aller Aussicht auf Unterstützung doppelt waghalsig,
fand endlich auch die Billigung des Vaters, nachdem ein Dresdener
Architekt, Guido, welcher auf einen kurzen Verwandtenbesuch nach
Pulsnitz gekommen war, auf Grund der vorgelegten Zeichnungen und
Malereien seine lebhafteste Ermunterung ausgesprochen hatte. Professor
Seifert, damals Inspektor der Dresdener Kunstakademie, gab seine Zu¬
stimmung. Der Würfel war gefallen. Michaelis 1820, also beinahe
16 Jahre alt, trat Rietschel in die unterste Klasse der Dresdener Aka¬
demie ein.
Wohl erzählt die Kunstgeschichte von gar mannigfachen Bildungs¬
mühen und Entbehrungen, durch welche sich oft strebende Künstler
qualvoll hindurchwinden mußten, und welchen nur allzu viele ermattet
unterlagen. Aber ein schwereres Los ist selten einem Künstler ge¬
worden, als unserem Rietschel. Und wenn wir heute darüber klagen
und trauern, daß eine langjährige Brustkrankheit den Meister mitten
in seinem freudigsten und gewaltigsten Schaffen dahinraffte, so wird
diese Trauer vermehrt durch die Gewißheit, daß der Keim dieser Krank¬
heit auf die entsetzliche Not zurückzuführen ist, mit welcher Rietschel
mitten in der anstrengenden Arbeit seines ersten rastlosen Strebens
und in den Jahren seines schnell aufschießenden körperlichen Wachstums
zu kämpfen hatte.
Ich werde es nie vergessen, mit welcher tiefrührenden Bescheiden¬
heit mir Rietschel einmal von dem Druck dieser seiner ersten Künstler¬
jahre erzählte. Es war am Vorabend jenes großen Künstlerfestes,
mit welchem die Dresdener Künstler im Mürz 1857 den geliebten
Meister nach der Vollendung der großen Goethe- und Schillergruppe
feierten. Solche Tage der Siegesfreude, die in kleinen Menschen die
Eitelkeit reizen, stimmten Rietschel ernst, demutsvoll und dankbar. Oft
hatte der Vater bei freudigen Ereignissen mit Thränen im Auge und
mit gefalteten Händen die Bibelworte gebetet: „Was bin ich und
mein Haus, daß du mein so gedenkest?" Dem Sohn war diese Ge¬
sinnung der Leitstern seines Lebens geblieben. Er pflegte sich in
solchen Stunden mit dem entzückendsten Humor in die Erinnerung
vergangener Leiden zu versenken.
Sechs Thaler bildeten das Kapital, mit welchem der junge
Künstler die Akademie bezog. Er wohnte in einem kleinen einstöckigen