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Ernst Curtius. 
Muße in der angelehnten Gestalt des Apollon, dessen Ausruhen nur 
die geistige Sammlung ist, welcher neue Lieder entkeimen. 
Ja, die Muße ist der gesegnete Mntterschoß alles dessen, wodurch 
die Hellenen vorbildlich geworden sind; sie ist die notwendige Voraus¬ 
setzung ihrer Geisteskultur, wie der Marmor für ihre Tempel. Aber 
auch in Griechenland war ein großer Unterschied nach Zeiten und 
Orten. 
Viele Stämme sind immer auf dem Standpunkte geblieben, wie 
die binnenländischen Peloponnesier. Bei anderen machte sich der 
semitische Erwerbstrieb in vorherrschender Weise geltend; so namentlich 
in Korinth und Aigina. Die richtige Ausgleichung ist nur in Athen 
ernstlich erstrebt und eine Zeitlang einzig gelungen. Das zeigt schon 
Solon, der Kaufmann, Dichter. Philosoph und Gesetzgeber. 
Im Leben der Athener ist aber keine größere Epoche eingetreten, 
als die siegreiche Beendigung der Perserkriege, und zwar deshalb, weil 
sie, wie Aristoteles sagt, nach denselben „mehr Muße gewannen." 
Von dem Maß der Muße macht also der große Geschichtskenner die 
eigentümliche Entwickelung Athens abhängig, indem die Bürger nun 
mit kühnem Selbstgefühl über den Notbedarf des Lebens hinausgingen 
und jedem geistigen Fortschritt folgten. 
Niemals aber ist das Verhältnis von Arbeit und Muße in 
gleichem Grade ein Gegenstand der Staatskunst geworden wie im 
perikleischen Athen. Hier wurde einerseits jeder Arbeit die volle Ehre 
gegeben und des Bürgers Kraft in Krieg und Frieden angespannt, 
andererseits eine Fülle des geistigen Genusses dargeboten als wohl¬ 
verdienter Lohn der Tapferkeit, um der steigenden Unruhe des Lebens 
durch eine auf das würdigste angewandte Muße das Gleichgewicht zu 
halten, um die Athener zu gewöhnen, das Schöne ohne Verweichlichung 
zu lieben und mit dem offnen Sinn für Wissenschaft und Kunst die 
pflichttreue Arbeitsamkeit des Bürgers zu verbinden. 
Alt-Italien ist im ganzen der arischen Lebensauffassung treuer 
geblieben als die griechische Halbinsel mit ihrer mehr zersetzten und 
tiefer durchwühlten Bevölkerung. Der Italiker blieb in näherm 
Zusammenhange mit dem Boden und richtete darnach Arbeit und 
Muße ein. Darum tritt auch die Freude an der Natur und an 
dem stillen Zusammenleben mit ihr viel kräftiger hervor. Sie wurde 
auch festgehalten, als mit der griechischen Bildung der Genuß 
griechischer Muße sich einbürgerte und als man, wie Seneca thut, 
Muße ohne Wissenschaft mit dem Zustand eines lebendig Begrabenen 
verglich. Man machte in Italien einen stärkeren Unterschied zwischen 
Stadt und Land, als es bei den Griechen der Fall war. Man ge¬ 
wöhnte sich, Geschäft und Muße räumlich zu trennen, und glaubte,
	        
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