Nikolaus Lenau 
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4. Sturmesmythe. 
Stumm uud regungslos tu sich verschlossen 
ruht die tiefe See dahingegossen, 
sendet ihren Gruß dem Strande nicht; 
ihre Wellenpulse sind versunken, 
5 ungespüret glühn die Abendfunken 
wie auf einem Totenangesicht. 
Nicht ein Blatt am Strande wagt zu rauschen; 
wie betroffen stehn die Bäume, lauschen, 
ob kein Lüftchen, keine Welle wacht, 
io Und die Sonne ist hinabgeschieden; 
hüllend breitet um den Todesfrieden 
Schleier nun auf Schleier stille Nacht. 
Plötzlich auf am Horizonte tauchen 
dunkle Wolken, die herüberhauchen, 
i5 schwer, in stürmischer Beklommenheit; 
eilig kommen sie heraufgefahren, 
haben sich in angstverworrnen Scharen 
um die stille Schläferin gereiht. 
Und sie neigen sich herab und fragen: 
so „Lebst du noch?" in lauten Donnerklagen, 
und sie weinen aus ihr banges Weh. 
Zitternd leuchten sie mit scheuem Grauen 
auf das stille Bett herab und schauen, 
ob die alte Mutter tot, die See. 
25 Nein, sie lebt! Sie lebt! Der Tochter Kummer 
hat sie aufgestört aus ihrem Kummer, 
und sie springt vom Lager hoch empor: 
Mutter, Kinder brausend sich umschlingen, 
und sie tanzen freudenwild und singen 
30 ihrer Lieb' ein Lied im Stnrmeschor. 
5. Aus den Schilfliedern. 
a) 
Drüben geht die Sonne scheiden, 
und der müde Tag entschlief. 
Niederhangen hier die Weiden 
in den Teich, so still, so tief. 
Und ich muß mein Liebstes meiden: 
quill, o Träne, quill hervor! 
Traurig säuseln hier die Weiden, 
und im Winde bebt das Rohr. 
In mein stilles, tiefes Leiden 
strahlst du, Ferne, hell und mild, 
wie durch Binsen hier und Weiden 
strahlt des Abendsternes Bild. 
d) 
Trübe wird's, die Wolken jagen, 
und der Regen niederbricht, 
und die lauten Winde klagen: 
„Teich, wo ist dein Sternenlicht?" 
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